Hoe Felix
Mendelssohn de Mattheuspassie herontdekte
het relaas van een getuige en medewerker: Eduard Devrient
How Felix Mendelssohn rediscovered Bach's St. Matthews Passion.
the report of an eye-witness and collaborator: Eduard Devrient
E. Devrient was a German baritone and playwright. He sang the part of
'Christ' in Mendelssohn's 1829 re-birth of Bach's Passion.
The text below is a copy from "Singkreis–Rundbrief", 1959. The text is
summarised and edited by Hermann Keller.
DIE WIEDERBELEBUNG
DER MATTHÄUSPASSION.
Von Eduard Devrient, "Erinnerungen an Felix Mendelssohn", Leipzig 1869.
Die Geselligkeit des Hauses Mendelssohn gewann außer an den Sonntagsmusiken
noch einen weiteren bildenden Ernst. Felix begann im Winter 1827 an einem
Abend der Woche, gewöhnlich des Sonnabends, einen kleinen zuverlässigen Chor
zu versammeln und seltene Musik zu üben. Bald legte er uns seine verehrte
"Matthäuspassion" vor.
Nun ging uns eine neue Welt der Musik auf, als ein Stück nach dem andern uns
gründlich klar wurde. - Das kursorische Durchnehmen von Bruchstücken in
Zelters Freitagsmusik hatte das nicht bewirken können. Daß das Absingen des
Evangeliums von verschiedenen Personen den Kern des Werkes abgab, frappierte
uns ungemein, es war ja vergessen, wie alt dieser kirchliche Gebrauch war.
Die dramatische Behandlung, welche dadurch entstand, die erschütternde
Gewalt der einschlagenden Chöre, vor allem die wunderbare Deklamation der
Partie des Jesus, die mir eine neue ehrwürdige Bibelsprache war - dies alles
wirkte mit jeder Übung wachsendes Staunen und Verwundern über die Größe
dieses Werkes.
Nicht nur Therese (Eduard Devrients Gattin), alle mitsingenden Freunde
teilten meine Eindrücke, und Felix hatte sich über Mangel an Eifer nicht zu
beklagen. Er nun war in das Werk so eingelebt, beherrschte seine
Schwierigkeiten mit so viel Leichtigkeit, und verstand es, seine
Beherrschung des Stoffes, seine lebendige Auffassung des Inhaltes so
geschickt und bescheiden auf uns zu übertragen, daß uns natürlich und
geläufig wurde, was bis dahin als eine rätselhafte musikalische
Geheimsprache gegolten hatte...
Immer heißer wurde in mir das Verlangen, den Jesus öffentlich zu singen;
Immer lebhafter tauschten wir die Wünsche aus, daß es möglich sein möchte,
das Wunderwerk zur Aufführung zu bringen. Aber allgemein schreckte man auch
zurück vor den unüberwindlichen Schwierigkeiten, welche das Werk an sich -
mit Doppelchor und Doppelorchester - dem Studium in den Weg legen würde, und
vor denen, welche die Umständlichkeit der Singakademie und die
abgeschlossene, unförderliche Haltung Zelters zu bereiten drohten.
Schließlich wurde es sehr in Frage gestellt: ob das Publikum auf ein so
weltfremdes Werk eingehen werde? Man hatte wohl in geistlichen Konzerten hie
und da ein kurzes Stück von Johann Sebastian Bach der Merkwürdigkeit wegen
hingenommen, nur die wenigen Kenner hatten Freude daran gehabt; jetzt aber
sollte man einen ganzen Abend nichts als Johann Sebastian Bach hören, der
nur als unmelodisch, berechnend, trocken und unverständlich im Publikum
bekannt war? Das würde als eine unverschämte Zumutung erscheinen…
Felix' Eltern selbst, die doch gern das Problem einer Aufführung der Passion
durch ihren Sohn gelöst gesehen hätten, vermochten nicht, sich diesen
Bedenken zu verschließen, Adolf Bernhard Marx äußerte sich zweifelhaft, und
die alten Akademistinnen schüttelten die Köpfe. Felix hielt die Aufführung
für so unmöglich, daß er auf mein und der mutvolleren Freunde Andringen nur
mit Scherz und Ironie antwortete. Er erbot sich, zu einer Aufführung Knarre
und Waldteufel (Kinderinstrumente, womit in Berlin der Weihnachtslärm
gemacht wird) zu spielen, stellte alle Stadien, welche die Unternehmung zu
durchlaufen hätte, im lächerlichsten Lichte dar, und sich selbst zumal, wenn
er, ohne das größte amtliche Ansehen, wagen wolle, das musikalische
Herkommen in Berlin aus den Angeln zu heben.
So hoffnungslos stand es um die Auferstehung der seit hundert Jahren
begrabenen Passionsmusik selbst bei ihren Bewunderern.
Mir ließ die Sache keine Ruhe. Als wir im Januar 1829 eines Abends den
ganzen ersten Teil des Werkes gesungen hatten und mit einem überwältigenden
Eindruck nach Haus gegangen waren, da kam mir in ruheloser Nacht der
Gedanke, auf welchem Wege eine Aufführung durchzusetzen sei. Mit Ungeduld
erwartete ich den späten Wintertag. Therese stimmte meinem Plane ermutigend
bei, und so machte ich mich zu Felix auf...
Als er erschien, hieß ich ihn an sein Frühstück gehen und eifrig essen,
damit er mich nicht zu oft unterbreche. Er ging mit gutem Humor und noch
besserem Appetit darauf ein, und ich erklärte ihm nun rund heraus, ich hätte
in dieser Nacht beschlossen, die Passion müsse in den nächsten Monaten, noch
vor seiner beabsichtigten Reise nach England, in der Singakademie aufgeführt
werden. Er lachte. - "Wer dirigiert sie denn?“ "Du!" "Den Teufel auch!
Unterstützen will ich die Musik mit -" "Komm mir nicht wieder mit deinem
Waldteufel! Die Sache ist jetzt außer allem Spaß und gründlich überlegt."
"Potz Wetter, du wirst feierlich! Nun, laß einmal hören!"
Nun stellte ich ihm die Folgerung auf: wir hätten die "Matthäuspassion" als
das größte und wichtigste deutsche Musikwerk erkannt; folglich dürften wir
auch nicht ruhen, bis dasselbe wieder zu lebendiger Wirkung gekommen sei und
wieder die Gemüter erbaue. Da mir Felix diese Aufstellungen nicht hatte
widerlegen können, so durfte ich die Summe ziehen: "Die Aufführung kann zur
Zeit niemand als du mit überzeugendem Erfolge unternehmen, folglich mußt du
es tun!" "Wenn ich's durchsetzen könnte, ja!"
Nun eröffnete ich ihm, daß, wenn er selbst die Veranstaltung wirklich nicht
durchzusetzen vermöge, ich mir Folgendes ausgedacht: Es sei ihm bekannt, daß
die Singakademie sowohl als Zelter selbst sich mir für meine beinahe
zehnjährige Mitwirkung bei allen ihren Konzerten verpflichtet erachteten;
ich würde also einen Gegendienst von beiden verlangen dürfen, und der sollte
die Überlassung des Saales und die Erlaubnis und Befürwortung einer
Einladung der Singakademie zur Mitwirkung bei der Passionsaufführung sein.
Felix vermochte nicht zu leugnen, daß man mir beides nicht verweigern werde.
Ich setzte ihm also weiter auseinander, daß, wenn er meine Genossenschaft
nicht verschmähen und als dirigierender Mitunternehmer auftreten wolle, auch
der musikalische Kredit des Unternehmens gesichert sei, und wenn wir
schließlich dessen Geldgewinn für irgendeinen wohltätigen Zweck bestimmten,
so würde die Sache nach allen Seiten hin gedeckt sein. So schloß ich denn:
"Ich biete dir also hiermit dies anständige Compagniegeschäft, übernehme
dabei alle geschäftlichen Besorgungen und singe den Jesus, du aber
dirigierst das vergessene Wunderwerk wieder in die offene Welt hinaus!"
Felix war gedankenvoll, dann sagte er: "Was mir an deinem Vorschlage
gefällt, ist, daß wir die Sache miteinander machen sollen, das ist hübsch.
Aber glaube mir, wir werden zunächst an Zelters Widerspruch scheitern. Er
hält die Aufführung der Passion für unmöglich, weil er und andere sie bisher
nicht unternehmen mochten."
Ich setzte bessere Hoffnung auf Zelters tüchtige Natur und auf die starke
Gemütsseite seines bärbeißigen Charakters; für den schlimmsten Fall aber war
ich entschlossen, selbst gegen Zelters Widerspruch die Sache bei der
Vorsteherschaft der Singakademie anzubringen und ihn zur Nachgiebigkeit zu
nötigen. Gegen solche extreme Schritte hatte Felix die stärkste Abneigung;
er hielt sie für pietätswidrig. Ich überredete ihn, daß sie nicht nötig sein
würden. Und so willigte er nach langem Hin- und Herdebattieren ein, sich dem
Unternehmen nicht zu entziehen.
Die Eltern und Fanny (Mendelssohns ältere Schwester) stimmten meinem Plane
bei, den sie als den einzigen erfolgsverheißenden ansahen. Es mußte sie
freuen, wenn Felix vor seinem Ausfluge in die Welt noch eine große und
denkwürdige Aufgabe löste. Der Vater hegte zwar noch Besorgnis vor Zelters
Widerstand, ich aber war guten Mutes.
Felix, nun mit der Sache sehr beschäftigt, dachte sich noch ein kluges
Verfahren aus, um sich und das Unternehmen nicht zu kompromittieren: Die
Chorübungen sollten mit der etwas vermehrten Mitgliederzahl des häuslichen
Kreises im kleinen Akademiesaale ohne angekündigten weiteren Zweck
fortgesetzt werden; dieser Chor sollte sich aus Mitgliedern der Singakademie
nach Lust und Neigung, auch Neugier, allmählich vermehren; dadurch gewönne
er einen sicheren Kern und vermöge - wenn alles gut gehe - die Masse mit
sich zu ziehen. Für den Fall aber, daß das Studium keinen Erfolg verspreche
oder andere Hinderungen sich fänden, könne die Sache aufgegeben werden,
bevor die Absicht einer Aufführung ausgesprochen worden sei.
So vorbereitet rückten wir dem alten Zelter aufs Zimmer, im Erdgeschoß der
Singakademie. Vor der Tür sagte Felix mir noch: "Du, wenn er aber grob wird,
geh ich fort; ich darf mich mit ihm nicht kabbeln." - "Grob wird er ganz
gewiß", antwortete ich, "aber das Kabbeln übernehme ich."
Wir klopften an. Die rauhe Stimme des Meisters rief uns laut hinein. Wir
trafen den alten Riesen im dichten Tabaksqualm, mit der langen Pfeife im
Munde, an seinem alten Flügel, mit doppelter Klaviatur, sitzend. Die
Schwanenfeder, mit der er zu schreiben pflegte, hatte er in der Hand, ein
Notenblatt vor sich. Er trug seine sandfarbene kurze Pikesche,
Unterbeinkleider, die, unterm Knie gebunden, noch auf kurze Hosen berechnet
waren, derbe wollene Strümpfe und gestickte Schuhe. Den Kopf, mit den
zurückgestrichenen weißen Haaren, hatte er gehoben; das Gesicht mit seinen
derben, bürgerlichen und doch bedeutenden Zügen hatte er nach der Tür uns
zugewendet, und als er uns durch seine Brille erkannt hatte, rief er
freundlich in seiner breiten Weise: "I, sieh da! schon so früh zwei so
schöne junge Leute! Nun, was verschafft mir die Ehre? Hier, Platz genommen!"
Er führte uns zu einem Winkel des Zimmers, wo er auf einem schlichten Sofa
niedersaß; wir holten uns Stühle,
Nun begann ich meinen wohlüberlegten Vortrag von der Bewunderung des
Bachschen Werkes, das wir in seinen Preitagsmusiken zuerst kennengelernt und
dann im Mendelssohnschen Hause weiter studiert hätten, und daß wir jetzt der
dringenden inneren und äußeren Aufforderung nachgeben möchten, einen Versuch
zu machen, das Meisterwerk der Öffentlichkeit zurückzugeben und - wenn er es
erlauben und unterstützen wolle - mit Hilfe der Singakademie eine Aufführung
zu veranstalten.
"Ja", sagte er gedehnt und reckte dabei das Kinn in die Höhe, wie er zu tun
pflegte, wenn er etwas mit großem Nachdruck besprach, "wenn das so zu machen
wäre! Dazu gehört mehr, als wir heutzutage zu bieten haben!" - Nun
verbreitete er sich über die Forderungen und Schwierigkeiten des Werkes, daß
man für diese Chore eine Thomasschule brauche, und eine, wie sie damals
beschaffen gewesen, als Johann Sebastian Bach ihr Kantor war; daß auch ein
Doppelorchester notwendig sei, und, daß die Violinspieler von heutzutage
diese Musik gar nicht mehr zu traktieren verständen. Das alles sei schon
lange und vielfach bedacht, und wenn sich die Schwierigkeiten so bald hätten
aus dem Wege räumen lassen, so wären schon längst alle vier Passionsmusiken
von Bach aufgeführt.
Er war warm geworden, stand auf, legte die Pfeife weg und schritt durchs
Zimmer. Felix zupfte mich am Rock, er gab die Sache schon verloren.
Ich erwiderte nun, daß wir, namentlich Felix, diese Schwierigkeiten sehr
hoch anschlügen, daß wir aber den Mut hätten, sie nicht für unüberwindlich
zu halten. Die Singakademie sei durch ihn schon mit Johann Sebastian Bach
bekannt, er habe den Chor so vortrefflich geschult, daß derselbe jeder
Schwierigkeit gewachsen sei; Felix habe auch durch ihn das Werk
kennengelernt, verdanke ihm auch die Anweisungen für seine Direktion; ich
brenne vor Verlangen, die Partie des Jesus öffentlich vorzutragen; wir
dürften hoffen, daß derselbe Enthusiasmus, welcher uns bewegte, bald alle
Mitwirkenden ergreifen und das Unternehmen gelingen lassen werde.
Zelter war immer ärgerlicher geworden. Er hatte hie und da Äußerungen des
Zweifels und der Geringschätzung eingeworfen, bei denen Felix mich wieder am
Rock gezupft, dann sich allmählich der Tür genähert hatte. Jetzt platzte der
alte Herr los: "Das soll man nun geduldig anhören! Haben sich's ganz andere
Leute müssen vergehen lassen, diese Arbeit zu unternehmen, und da kommt nun
so ein Paar Rotznasen daher, denen alles das Kinderspiel ist!"
Diesen Berliner Kernschuß hatte er mit äußerster Energie abgefeuert. Ich
hatte Mühe, das Lachen zu verbeißen; hatte Zelter doch einen Freibrief für
alle Grobheit, und für Christi Passion von Johann Sebastian Bach und von
unserem alten Lehrer konnten wir uns wohl noch mehr gefallen lassen.
Ich sah mich nach Felix um. Der stand an der Tür, den Griff in der Hand und
winkte mir mit etwas blassem und verletztem Gesicht zu, daß wir gehen
sollten. Ich bedeutete ihm, daß wir bleiben müßten, und fing getrost wieder
an zu argumentieren: daß, wenn wir auch jung, wir doch wohl nicht mehr so
ganz unreif wären, da unser Meister uns doch schon manche schwierige Aufgabe
zugemutet habe; daß gerade der Jugend der Unternehmungsmut zustehe, und
zuletzt müsse es doch wohltuend für ihn sein, wenn gerade zwei seiner
Schüler sich an dem Höchsten versuchten, das er sie kennen gelehrt.
Meine Argumente begannen jetzt sichtlich zu wirken, die Krisis war
überstanden. Wir wollten nur den Versuch machen, fuhr ich fort, ob das
Unternehmen sich durchsetzen lasse, dies nur möge er erlauben und
unterstützen; gelänge es nicht, so könnten wir immer noch, und ohne Schande,
davon ablassen.
"Wie wollt ihr denn das machen?" sagte er stehen bleibend, "ihr denkt an
nichts. Da ist zuerst die Vorsteherschaft, die konsentieren muß; da sind gar
viele Köpfe und viele Sinne - und Weiberköpfe sind auch dabei; ja! - die
bringt ihr nicht so leicht unter einen Hut!"
Ich entgegnete ihm: die Vorsteher seien mir freundlich gesinnt, die
tonangebenden Vorsteherinnen, als Mitsingende bei den Übungen im
Mendelssohnschen Hause, schon gewonnen. Ich hoffte die Bewilligung des
Saales und der Mitwirkung der Mitglieder wohl zu erlangen,
"Ja, die Mitglieder!" rief Zelter, "da fängt der Jammer erst an. Heute
kommen ihrer zehn zur Probe und morgen bleiben zwanzig davon weg, ja!"
Wir konnten von Herzen über diesen Witz lachen, denn er zeigte uns, daß
unsere Partie gewonnen war. Felix setzte dem alten Herrn nun seinen Plan mit
den Vorübungen im kleinen Saale auseinander, sprach ihm von der
Zusammensetzung des Orchesters, das Eduard Rietz führen sollte, und da
Zelter schließlich keine praktischen Bedenken mehr vorbringen konnte, so
sagte er: "Na, ich will euch nicht entgegen sein - auch zum Guten sprechen,
wo es Not tut. Geht denn in Gottes Namen daran, wir werden ja sehen, was
draus wird!"
So schieden wir dankbar und als gute Freunde von unserem alten, wackeren
Bären. "Wir sind durch!" sagte ich auf der Hausflur. - "Aber höre",
erwiderte Felix, "du bist eigentlich ein verfluchter Kerl, ein Erzjesuit!" -
"Alles zur höheren Ehre Gottes und Johann Sebastian Bachs", entgegnete ich,
und wir jubelten draußen in die Winterluft hinaus, da nun der wichtigste
Schritt gelungen war.
Alles andere machte sich nun leicht. Die Schwierigkeiten verschwanden wie
Gespenster, denen man zu Leibe rückt. Die Vorsteherschaft willigte
unbedenklich in alle unsere Wünsche; die erste Chorübung im kleinen Saale
hatte schon doppelt so viele Teilnehmer als im Mendelssohn'schen Hause, und
sie wuchsen von einer Uebung zur andern dergestalt, dass der Kopist nicht
hinlänglich Stimmen schaffen konnte, und wir auch schon nach der fünften
Uebung in den grossen Saal gehen mussten. Man darf hierbei nicht vergessen,
dass die grosse Zahl der Akademiemitglieder, welche, gelockt von dem
merkwürdigen Unternehmen, zu diesen ersten Uebungen kamen, nach Zelters
Voraussage alle nicht wiedergekommen wären, wenn es nicht gelang, sie gleich
bei der ersten Zusammenkunft zu gewinnen und zu fesseln.
Darum nahm Felix sofort - und wiederholte das in den ersten Vorübungen -
nicht vereinzelte Stücke, etwa die leichten zuerst, sondern eine bestimmte
Gruppe der Komposition zum Studienobjekte, übte die Chöre sogleich mit
unerbittlicher Genauigkeit bis zu ihrem vollen Ausdruck und gab dadurch den
Singenden einen ganz vollständigen Eindruck von der Besonderheit des Werkes.
Seine Erklärungen und Anweisungen waren präzis, kurz und ebenso
übergewichtig als jugendlich bescheiden vorgebracht.
Mehrere Male sassen wir indessen beide beisammen, die Abkürzung der Partitur
für die Aufführung zu überlegen. Es konnte nicht darauf ankommen, das Werk,
das doch auch durch den Geschmack seiner Zeit vielfach beeinflusst war, in
seiner Vollständigkeit vorzuführen, sondern den Eindruck seiner
Vorzüglichkeit zusammenzuhalten. Die Mehrzahl der Arien musste weggelassen,
von anderen konnten nur die Einleitungen, die sogenannten Accompagnements,
erhalten werden; auch vom Evangelium musste fortbleiben, was nicht zur
Passionserzählung gehört, oft genug waren wir zwiespältiger Ansicht, denn es
galt eine Gewissensaufgabe; aber was wir schliesslich festgestellt, scheint
doch das Rechte gewesen zu sein, da es späterhin bei den meisten
Aufführungen angenommen worden ist.
Es wurde nun Zeit, die Solosänger einzuladen. Wir beschlossen, vereint die
Runde zu machen, und Felix war kindisch genug, zu verlangen, dass wir dazu
ganz gleich gekleidet sein sollten. Blauer Rock, weisse Weste, schwarzes
Halstuch, schwarze Pantalons, und dazu hellgelbe Handschuhe von Wildleder,
die damals gebräuchlich waren. In dieser Passionsuniform gingen wir denn -
nachdem uns Therese, der die Sache sehr feierlich war, eine Festschokolade
gegeben, die Felix liebte - sehr vergnügt unseres Weges. Wir besprachen den
wunderlichen Zufall, dass gerade hundert Jahre seit der letzten Leipziger
Aufführung vergangen sein mussten, bis diese Passion wieder ans Licht
komme.- "Und", rief Felix übermütig, mitten auf dem Opernplatze stehen
bleibend, "dass es gerade ein Komödiant und ein Judenjunge sein müssen, die
den Leuten die grösste christliche Musik wiederbringen!"
Felix vermied sonst entschieden, seiner Abstammung zu gedenken; hier riss
ihn das Frappante der Bemerkung und die fröhliche Stimmung hin. "Du führst
das Wort und ich mache nur die Reverenzen dazu", sagte Felix vor der ersten
Tür, wo wir ansprachen. Wir hatten beides wenig nötig, die vier ersten
Talente unserer Oper waren zur Mitwirkung ganz bereit. Ihr Hinzutreten zu
den Proben, die Vollendung, die das Werk nun gewann, gab den Studien neues
Interesse. Musiker und Kenner drängten sich zu den Proben, um die
Komposition genauer verstehen zu lernen. Man staunte, nicht sowohl über die
Grossartigkeit des Baues, sondern mehr über die Fülle der Melodien, über den
reichen Ausdruck der Empfindung, der Leidenschaft, über die eigentümliche
Deklamation und über die Wucht der dramatischen Wirkungen. Von alledem hatte
man ja dem alten Bach nichts zugetraut.
Aber was Felix getan hat, diese Eigenschaften des Werkes ans Licht zu
kehren, seinen Wunderbau in seiner ganzen Pracht erkennen zu lassen, das ist
ebenso denkwürdig, wie die ganze folgenreiche Unternehmung. Die Genialität
der Auffassung, mit der er sich des Werkes bemächtigt und es zum heiligsten
Eigentum gemacht hatte, das war nur die Hälfte seines Verdienstes. Mit
welcher Geschicklichkeit, Energie, Ausdauer und kluger Berechnung seiner
Mittel er das antiquierte Werk wieder modern, anschaulich und lebendig
gemacht hat, das muss man miterlebt haben, um den zwanzigjährigen Jünglich
danach in der Bedeutung seiner Fähigkeiten und ihrer frühen Reife zu
schätzen. Er hat in seinem ganzen Leben kein grösseres Meisterstück der
Direktion geliefert, als dieses erste und vielleicht schwierigste.
Die grossen Proben waren durch Zelters autoritätsverleihende Gegenwart
gehoben, aber solange das Orchester nicht dabei war, hatte Felix mit der
ganzen Arbeit der Direktion und der Flügelbegleitung fertig zu werden, was
bei den so vielfach rasch einschlagenden Chorsätzen von verschiedenen
Rhythmen überaus schwierig war; wobei denn das Kunststück durchgeführt
werden musste, mit der linken Hand die ganze Begleitung zu erzwingen,
während die rechte den Taktstock schwang.
Als das Orchester hinzutrat, liess Felix - weil das damalige Konzertdekorum
dem Dirigenten noch nicht erlaubte, die Rückenstellung gegen das Publikum
einzunehmen, die ihm im Opernorchester immer erlaubt war - den Flügel in die
Quere, zwischen die beiden Chore, stellen, wodurch er freilich den ersten
Chor im Rücken hatte, aber doch den zweiten und das Orchester im Auge.
Dieses bestand grösstenteils aus Dilettanten des philharmonischen Vereins,
nur die Führer der Streichinstrumente und die Bläser gehörten der
königlichen Kapelle an. Die letzteren waren auf der Höhe der
amphitheatralischen Aufstellung durch die drei geöffneten Türen bis in den
kleinen Saal hinausgerückt. Eduard Rietz war der Anker, der dieser
schwankenden Körperschaft festen Grund verlieh.
Diese schwierige Situation beherrschte der Neuling Felix mit einer Ruhe und
Sicherheit, als ob er schon zehn Musikfeste dirigiert hätte. Die feine und
anspruchslose Weise, in welcher er durch Miene, Kopf- und Handbewegung an
die verabredeten Schattierungen des Vortrags erinnerte und ihn so mit leiser
Gewalt beherrschte; die gelassene Sicherheit, mit welcher er bei
Generalprobe und Aufführung, sobald grosse Stücke von gleichmässiger
Bewegung ganz im Zuge waren, kaum merklich nickend, als wollte er sagen:
"Nun geht es gut und ohne mich!", den Taktstock sinken liess und mit der
verklärten Miene zuhörte, die ihn beim Musizieren seltsam verschönte,
gelegentlich mir mit den Augen zuwinkend, bis er wieder vorausempfand, dass
es nötig sei, den Taktstock zu gebrauchen - alles das war ebenso
bewunderungs- wie liebenswürdig.
Wir hatten oft über musikalische Direktion disputiert. Mich störte - und
stört mich heute noch - das unausgesetzte, notwendig mechanisch werdende
Taktieren der Dirigenten. Die Musikstücke werden damit förmlich
durchgefuchtelt. Ich hielt es immer für angemessen, nur da zu taktieren, wo
schwierige Stellen oder zu fürchtende Schwankungen der Ausführung es nötig
machten. Die Aufgabe aller Direktion ist doch wohl: sich möglichst vergessen
zu machen. Felix nahm sich vor, mir zu zeigen, wie weit man darin gehen
dürfe, und er zeigte es bei der Passionsaufführung in der vollendetsten
Weise.
Ich erinnere mich dessen mit um so mehr Befriedigung, als man in neuerer
Zeit das merkwürdige Hantieren des Dirigenten zu einem Hauptreiz von
Musikaufführungen gemacht hat.
Zu dem bahnbrechenden Einfluss, den Johann Sebastian Bach auf die Musik der
Neuzeit durch die "Matthäuspassion" gewinnen sollte, gehörte es allerdings,
dass die erste Wiederaufführung so vollkommen gelang, als dieses am 11. März
1829 geschah; sie ist um dessentwillen denkwürdig. Die Singakademie leistete
mit diesen Chören das Trefflichste, was sie je vermocht hatte, und wer den
Stimmklang dieser drei- bis vierhundert hochgebildeten Dilettanten gehört
hat, wer es erfahren hat, zu welch wirklich andächtigem Eifer bedeutende
Musik sie hinreissen konnte, der wird begreifen, dass hier unter vollendeter
Führung das Vollendete geleistet wurde.
Stürmer sang den Evangelisten mit der wohltuendsten Korrektheit, ganz im
Tone des Erzählers, ohne sich im Empfindungsausdruck des zweiten Teils den
unmittelbar redenden dramatischen Gestalten gleichzustellen. Auch die Arie
"Ich will bei meinem Jesu wachen" hatte er übernommen, da sie zu hoch für
Bader lag, der in seiner anspruchslosen Willigkeit, mitzuhelfen, den Petrus
und den Pilatus sang. Die Damen brachten ihre rührenden Stücke zur voller
Wirkung: die gewinnende Stimme der Milder, zumal das Accompagnato "Du lieber
Heiland du", der vollquellende Ton des Fräuleins von Schätzel die Arie
"Erbarme Dich mein Gott!", von Eduard Rietz mit seinem grossen vollen Ton im
stilvollen Ausdruck begleitet, ein Bussgesang ohnegleichen.
Ich meines Teils war mir bewusst, dass der Eindruck, den der Vortrag des
Jesus hervorbringt, wesentlich über den Eindruck des ganzen Werkes
entscheidet. Mir galt es als die grösste Aufgabe, die einem Sänger werden
kann. Mich beruhigte, dass die Partie gut in meiner Stimme lag, dass ich sie
lange mit Felix und zu seiner vollen Befriedigung studiert hatte, und so
konnte ich, getragen von dem Total der Aufführung, aus voller Seele singen,
und fühlte, dass die andächtigen Schauer, die mich bei den eindringlichsten
Stellen durchrieselten, auch durch die totenstillen Zuhörer wehten.
Nie habe ich eine heiligere Weihe auf einer Versammlung ruhen gefühlt, als
an diesem Abend auf Musizierenden und Zuhörern.
Der Vorgang machte zunächst in dem Bildungskreise Berlins eine ganz
ausserordentliche Sensation. Man fühlte die epochemachende Konsequenz dieses
Wiederauflebens der populären Wirkung eines halb vergessenen Genies. Wir
mussten eine zweite Aufführung am 21. März veranstalten, die überfüllt war,
wie die erste. Die beiden Einnahmen dienten zur Stiftung zweier Nähschulen
für arme Mädchen. –
Zelter wiederholte sie, nach Felix’ Abreise, am Karfreitag, den 17. April,
anstatt des gewohnten "Tod Jesu" von Graun.
Wie der Eindruck dieser Aufführungen bald ähnliche in anderen Städten
hervorgerufen, wie man sich an anderen Passionsmusiken von Bach, besonders
an der nach dem Evangelisten Johannes versucht, dann die Aufmerksamkeit auf
die Instrumentalmusik der alten Meister gewendet, sie herausgegeben, zu
Konzert-Bravourstücken gemacht usw., das alles ist der heutigen Musikwelt
bekannt. Sie sollte aber nie vergessen, dass dieser neue Bach-Kultus vom 11.
März 1829 datiert, und dass Felix Mendelssohn es war, welcher den grössten
und tiefsinnigsten Komponisten wieder in lebendige Wirkung gesetzt hat.
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