Vorrede zum zweiten
                Auflage [Boek I-IV] Fünftes Buch. Wir Furchtlosen 
            
           
          
          
            Carcasse, tu trembles? TuTurenne .
           
           
          343. 
          Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat. 
              — Das grösste neuere Ereigniss, — dass „Gott todt ist“, dass der
              Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist —
              beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen. Für
              die Wenigen wenigstens, deren Augen, deren   Argwohn 
              in den Augen stark und fein genug für dies Schauspiel ist, scheint
              eben irgend eine Sonne untergegangen, irgend ein altes tiefes
              Vertrauen in Zweifel umgedreht: ihnen muss unsre alte Welt täglich
              abendlicher, misstrauischer, fremder, „älter“ scheinen. In der
              Hauptsache aber darf man sagen: das Ereigniss selbst ist viel zu
              gross, zu fern, zu abseits vom Fassungsvermögen Vieler, als dass
              auch nur seine Kunde schon   angelangt 
              heissen dürfte; geschweige denn, dass Viele bereits wüssten,  
            was  eigentlich sich damit begeben
              hat — und was Alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist,
              nunmehr einfallen muss, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in
              ihn hineingewachsen war: zum Beispiel unsre ganze europäische
              Moral. Diese lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung,
              Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht: wer erriethe heute schon
              genug davon, um den Lehrer und Vorausverkünder dieser ungeheuren
              Logik von Schrecken abgeben zu müssen, den Propheten einer
              Verdüsterung und Sonnenfinsterniss, deren Gleichen es
              wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat? …Selbst wir
              geborenen Räthselrather, die wir gleichsam auf den Bergen warten,
              zwischen Heute und Morgen hingestellt und in den Widerspruch
              zwischen Heute und Morgen hineingespannt, wir Erstlinge und
              Frühgeburten des kommenden Jahrhunderts, denen eigentlich die
              Schatten, welche Europa alsbald einwickeln müssen, jetzt schon zu
              Gesicht gekommen sein   sollten :
              woran liegt es doch, dass selbst wir ohne rechte Theilnahme für
              diese Verdüsterung, vor Allem ohne Sorge und Furcht für   uns  ihrem Heraufkommen entgegensehn?
              Stehen wir vielleicht zu sehr noch unter den   nächsten
              Folgen  dieses Ereignisses — und diese nächsten
              Folgen, seine Folgen für   uns 
              sind, umgekehrt als man vielleicht erwarten könnte, durchaus nicht
              traurig und verdüsternd, vielmehr wie eine neue schwer zu
              beschreibende Art von Licht, Glück, Erleichterung, Erheiterung,
              Ermuthigung, Morgenröthe… In der That, wir Philosophen und „freien
              Geister“ fühlen uns bei der Nachricht, dass der „alte Gott todt“
              ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz
              strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, —
              endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst,
              dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder
              auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des
              Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer,   unser 
              Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so
              „offnes Meer“. — 
           
          344. 
          Inwiefern auch wir noch fromm sind .
              — In der Wissenschaft haben die Ueberzeugungen kein Bürgerrecht,
              so sagt man mit gutem Grunde: erst wenn sie sich entschliessen,
              zur Bescheidenheit einer Hypothese, eines vorläufigen
              Versuchs-Standpunktes, einer regulativen Fiktion herabzusteigen,
              darf ihnen der Zutritt und sogar ein gewisser Werth innerhalb des
              Reichs der Erkenntniss zugestanden werden, — immerhin mit der
              Beschränkung, unter polizeiliche Aufsicht gestellt zu bleiben,
              unter die Polizei des Misstrauens. — Heisst das aber nicht,
              genauer besehen: erst, wenn die Ueberzeugung   aufhört ,
              Ueberzeugung zu sein, darf sie Eintritt in die Wissenschaft
              erlangen? Fienge nicht die Zucht des wissenschaftlichen Geistes
              damit an, sich keine Ueberzeugungen mehr zu gestatten?… So steht
              es wahrscheinlich: nur bleibt übrig zu fragen, ob nicht,  
            damit diese Zucht anfangen könne ,
              schon eine Ueberzeugung da sein müsse, und zwar eine so
              gebieterische und bedingungslose, dass sie alle andren
              Ueberzeugungen sich zum Opfer bringt. Man sieht, auch die
              Wissenschaft ruht auf einem Glauben, es giebt gar keine
              „voraussetzungslose“ Wissenschaft. Die Frage, ob   Wahrheit 
              noth thue, muss nicht nur schon vorher bejaht, sondern in dem
              Grade bejaht sein, dass der Satz, der Glaube, die Ueberzeugung
              darin zum Ausdruck kommt „es thut   nichts
              mehr  noth als Wahrheit, und im Verhältniss zu ihr hat
              alles Uebrige nur einen Werth zweiten Rangs“. — Dieser unbedingte
              Wille zur Wahrheit: was ist er? Ist es der Wille,   sich nicht täuschen zu lassen ? Ist es
              der Wille,   nicht zu täuschen ?
              Nämlich auch auf diese letzte Weise könnte der Wille zur Wahrheit
              interpretirt werden: vorausgesetzt, dass man unter der
              Verallgemeinerung „ich will nicht täuschen“ auch den einzelnen
              Fall „ich will   mich 
              nicht täuschen“ einbegreift. Aber warum nicht täuschen? Aber warum
              nicht sich täuschen lassen? — Man bemerke, dass die Gründe für das
              Erstere auf einem ganz andern Bereiche liegen als die für das
              Zweite: man will sich nicht täuschen lassen, unter der Annahme,
              dass es schädlich, gefährlich, verhängnissvoll ist, getäuscht zu
              werden, — in diesem Sinne wäre Wissenschaft eine lange Klugheit,
              eine Vorsicht, eine Nützlichkeit, gegen die man aber billigerweise
              einwenden dürfte: wie? ist wirklich das
              Sich-nicht-täuschen-lassen-wollen weniger schädlich, weniger
              gefährlich, weniger verhängnissvoll: Was wisst ihr von vornherein
              vom Charakter des Daseins, um entscheiden zu können, ob der
              grössere Vortheil auf Seiten des Unbedingt-Misstrauischen oder des
              Unbedingt-Zutraulichen ist? Falls aber Beides nöthig sein sollte,
              viel Zutrauen   und  viel
              Misstrauen: woher dürfte dann die Wissenschaft ihren unbedingten
              Glauben, ihre Ueberzeugung nehmen, auf dem sie ruht, dass Wahrheit
              wichtiger sei als irgend ein andres Ding, auch als jede andre
              Ueberzeugung? Eben diese Ueberzeugung könnte nicht entstanden
              sein, wenn Wahrheit   und 
              Unwahrheit sich beide fortwährend als nützlich bezeigten: wie es
              der Fall ist. Also — kann der Glaube an die Wissenschaft, der nun
              einmal unbestreitbar da ist, nicht aus einem solchen
              Nützlichkeits-Calcul seinen Ursprung genommen haben, sondern
              vielmehr   trotzdem , dass
              ihm die Unnützlichkeit und Gefährlichkeit des „Willens zur
              Wahrheit“, der „Wahrheit um jeden Preis“ fortwährend bewiesen
              wird. „Um jeden Preis“: oh wir verstehen das gut genug, wenn wir
              erst einen Glauben nach dem andern auf diesem Altare dargebracht
              und abgeschlachtet haben! — Folglich bedeutet „Wille zur Wahrheit“
              nicht  „ich will mich nicht
              täuschen lassen“, sondern — es bleibt keine Wahl — „ich will nicht
              täuschen, auch mich selbst nicht“: —   und
              hiermit sind wir auf dem Boden der Moral . Denn man
              frage sich nur gründlich: „warum willst du nicht täuschen?“
              namentlich wenn es den Anschein haben sollte, — und es hat den
              Anschein! — als wenn das Leben auf Anschein, ich meine auf
              Irrthum, Betrug, Verstellung, Blendung, Selbstverblendung angelegt
              wäre, und wenn andrerseits thatsächlich die grosse Form des Lebens
              sich immer auf der Seite der unbedenklichsten   πολύτροποι 
              gezeigt hat. Es könnte ein solcher Vorsatz vielleicht, mild
              ausgelegt, eine Don-Quixoterie, ein kleiner schwärmerischer
              Aberwitz sein; er könnte aber auch noch etwas Schlimmeres sein,
              nämlich ein lebensfeindliches zerstörerisches Princip… „Wille zur
              Wahrheit“ — das könnte ein versteckter Wille zum Tode sein. —
              Dergestalt führt die Frage: warum Wissenschaft? zurück auf das
              moralische Problem:   wozu überhaupt
              Moral , wenn Leben, Natur, Geschichte „unmoralisch“
              sind? Es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige, in jenem verwegenen
              und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft
              voraussetzt,   bejaht damit eine andre
              Welt  als die des Lebens, der Natur und der
              Geschichte; und insofern er diese „andre Welt“ bejaht, wie? muss
              er nicht ebendamit ihr Gegenstück, diese Welt,   unsre 
              Welt — verneinen?… Doch man wird es begriffen haben, worauf ich
              hinaus will, nämlich dass es immer noch ein   metaphysischer
              Glaube  ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft
              ruht, — dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und
              Antimetaphysiker, auch   unser 
              Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter
              Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube
              Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit
              göttlich ist… Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig
              wird, wenn Nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der
              Irrthum, die Blindheit, die Lüge, — wenn Gott selbst sich als
              unsre längste Lüge erweist? — 
           
          345. 
          Moral als Problem . — Der Mangel an
              Person rächt sich überall; eine geschwächte, dünne, ausgelöschte,
              sich selbst leugnende und verleugnende Persönlichkeit taugt zu
              keinem guten Dinge mehr, — sie taugt am wenigsten zur Philosophie.
              Die „Selbstlosigkeit“ hat keinen Werth im Himmel und auf Erden;
              die grossen Probleme verlangen alle die   grosse
              Liebe , und dieser sind nur die starken, runden,
              sicheren Geister fähig, die fest auf sich selber sitzen. Es macht
              den erheblichsten Unterschied, ob ein Denker zu seinen Problemen
              persönlich steht, so dass er in ihnen sein Schicksal, seine Noth
              und auch sein bestes Glück hat, oder aber „unpersönlich“: nämlich
              sie nur mit den Fühlhörnern des kalten neugierigen Gedankens
              anzutasten und zu fassen versteht. Im letzteren Falle kommt Nichts
              dabei heraus, so viel lässt sich versprechen: denn die grossen
              Probleme, gesetzt selbst, dass sie sich fassen lassen, lassen sich
              von Fröschen und Schwächlingen nicht   halten ,
              das ist ihr Geschmack seit Ewigkeit, — ein Geschmack übrigens, den
              sie mit allen wackern Weiblein theilen. — Wie kommt es nun, dass
              ich noch Niemandem begegnet bin, auch in Büchern nicht, der zur
              Moral in dieser Stellung als Person stünde, der die Moral als
              Problem und dies Problem als   seine 
              persönliche Noth, Qual, Wollust, Leidenschaft kennte? Ersichtlich
              war bisher die Moral gar kein Problem; vielmehr Das gerade, worin
              man, nach allem Misstrauen, Zwiespalt, Widerspruch, mit einander
              überein kam, der geheiligte Ort des Friedens, wo die Denker auch
              von sich selbst ausruhten, aufathmeten, auflebten. Ich sehe
              Niemanden, der eine   Kritik 
              der moralischen Werthurtheile gewagt hätte; ich vermisse hierfür
              selbst die Versuche der wissenschaftlichen Neugierde, der
              verwöhnten versucherischen Psychologen- und
              Historiker-Einbildungskraft, welche leicht ein Problem vorwegnimmt
              und im Fluge erhascht, ohne recht zu wissen, was da erhascht ist.
              Kaum dass ich einige spärliche Ansätze ausfindig gemacht habe, es
              zu einer   Entstehungsgeschichte 
              dieser Gefühle und Werthschätzungen zu bringen (was etwas Anderes
              ist als eine Kritik derselben und noch einmal etwas Anderes als
              die Geschichte der ethischen Systeme): in einem einzelnen Falle
              habe ich Alles gethan, um eine Neigung und Begabung für diese Art
              Historie zu ermuthigen — umsonst, wie mir heute scheinen will. Mit
              diesen Moral-Historikern (namentlich Engländern) hat es wenig auf
              sich: sie stehen gewöhnlich selbst noch arglos unter dem Kommando
              einer bestimmten Moral und geben, ohne es zu wissen, deren
              Schildträger und Gefolge ab; etwa mit jenem noch immer so
              treuherzig nachgeredeten Volks-Aberglauben des christlichen
              Europa, dass das Charakteristicum der moralischen Handlung im
              Selbstlosen, Selbstverleugnenden, Sich-Selbst-Opfernden, oder im
              Mitgefühle, im Mitleiden belegen sei. Ihr gewöhnlicher Fehler in
              der Voraussetzung ist, dass sie irgend einen consensus der Völker,
              mindestens der zahmen Völker über gewisse Sätze der Moral
              behaupten und daraus deren unbedingte Verbindlichkeit, auch für
              dich und mich, schliessen; oder dass sie umgekehrt, nachdem ihnen
              die Wahrheit aufgegangen ist, dass bei verschiedenen Völkern die
              moralischen Schätzungen   nothwendig 
              verschieden sind, einen Schluss auf Unverbindlichkeit   aller  Moral machen: was Beides gleich
              grosse Kindereien sind. Der Fehler der Feineren unter ihnen ist,
              dass sie die vielleicht thörichten Meinungen eines Volkes über
              seine Moral oder der Menschen über alle menschliche Moral
              aufdecken und kritisiren, also über deren Herkunft, religiöse
              Sanktion, den Aberglauben des freien Willens und dergleichen, und
              ebendamit vermeinen, diese Moral selbst kritisirt zu haben. Aber
              der Werth einer Vorschrift „du sollst“ ist noch gründlich
              verschieden und unabhängig von solcherlei Meinungen über dieselbe
              und von dem Unkraut des Irrthums, mit dem sie vielleicht
              überwachsen ist: so gewiss der Werth eines Medikaments für den
              Kranken noch vollkommen unabhängig davon ist, ob der Kranke
              wissenschaftlich oder wie ein altes Weib über Medizin denkt. Eine
              Moral könnte selbst   aus 
              einem Irrthum gewachsen sein: auch mit dieser Einsicht wäre das
              Problem ihres Werthes noch nicht einmal berührt. — Niemand also
              hat bisher den   Werth 
              jener berühmtesten aller Medizinen, genannt Moral, geprüft: wozu
              zuallererst gehört, dass man ihn einmal —   in
              Frage stellt . Wohlan! Dies eben ist unser Werk. — 
           
          346. 
          Unser Fragezeichen . — Aber ihr
              versteht das nicht? In der That, man wird Mühe haben, uns zu
              verstehn. Wir suchen nach Worten, wir suchen vielleicht auch nach
              Ohren. Wer sind wir doch? Wollten wir uns einfach mit einem
              älteren Ausdruck Gottlose oder Ungläubige oder auch Immoralisten
              nennen, wir würden uns damit noch lange nicht bezeichnet glauben:
              wir sind alles Dreies in einem zu späten Stadium, als dass man
              begriffe, als dass   ihr 
              begreifen könntet, meine Herren Neugierigen, wie es Einem dabei zu
              Muthe ist. Nein! nicht mehr mit der Bitterkeit und Leidenschaft
              des Losgerissenen, der sich aus seinem Unglauben noch einen
              Glauben, einen Zweck, ein Martyrium selbst zurecht machen muss!
              Wir sind abgesotten in der Einsicht und in ihr kalt und hart
              geworden, dass es in der Welt durchaus nicht göttlich zugeht, ja
              noch nicht einmal nach menschlichem Maasse vernünftig, barmherzig
              oder gerecht: wir wissen es, die Welt, in der wir leben, ist
              ungöttlich, unmoralisch, „unmenschlich“, — wir haben sie uns
              allzulange falsch und lügnerisch, aber nach Wunsch und Willen
              unsrer Verehrung, das heisst nach einem   Bedürfnisse 
              ausgelegt. Denn der Mensch ist ein verehrendes Thier! Aber er ist
              auch ein misstrauisches: und dass die Welt   nicht 
              das werth ist, was wir geglaubt haben, das ist ungefähr das
              Sicherste, dessen unser Misstrauen endlich habhaft geworden ist.
              So viel Misstrauen, so viel Philosophie. Wir hüten uns wohl zu
              sagen, dass sie   weniger 
              werth ist: es erscheint uns heute selbst zum Lachen, wenn der
              Mensch in Anspruch nehmen wollte, Werthe zu erfinden, welche den
              Werth der wirklichen Welt   überragen 
              sollten, — gerade davon sind wir zurückgekommen als von einer
              ausschweifenden Verirrung der menschlichen Eitelkeit und
              Unvernunft, die lange nicht als solche erkannt worden ist. Sie hat
              ihren letzten Ausdruck im modernen Pessimismus gehabt, einen
              älteren, stärkeren in der Lehre des Buddha; aber auch das
              Christenthum enthält sie, zweifelhafter freilich und zweideutiger,
              aber darum nicht weniger verführerisch. Die ganze Attitüde „Mensch
              gegen  Welt“, der Mensch
              als „Welt-verneinendes“ Princip, der Mensch als Werthmaass der
              Dinge, als Welten-Richter, der zuletzt das Dasein selbst auf seine
              Wagschalen legt und zu leicht befindet — die ungeheuerliche
              Abgeschmacktheit dieser Attitüde ist uns als solche zum
              Bewusstsein gekommen und verleidet, — wir lachen schon, wenn wir
              „Mensch   und  Welt“
              nebeneinander gestellt finden, getrennt durch die sublime
              Anmaassung des Wörtchens „und“! Wie aber? Haben wir nicht eben
              damit, als Lachende, nur einen Schritt weiter in der Verachtung
              des Menschen gemacht? Und also auch im Pessimismus, in der
              Verachtung des   uns 
              erkennbaren Daseins? Sind wir nicht eben damit dem Argwohne eines
              Gegensatzes verfallen, eines Gegensatzes der Welt, in der wir
              bisher mit unsren Verehrungen zu Hause waren — um deren willen wir
              vielleicht zu leben   aushielten 
              —, und einer andren Welt,   die wir
              selber sind : einem unerbittlichen, gründlichen,
              untersten Argwohn über uns selbst, der uns Europäer immer mehr,
              immer schlimmer in Gewalt bekommt und leicht die kommenden
              Geschlechter vor das furchtbare Entweder-Oder stellen könnte:
              „entweder schafft eure Verehrungen ab oder —   euch
              selbst !“ Das Letztere wäre der Nihilismus; aber wäre
              nicht auch das Erstere — der Nihilismus? — Dies ist   unser  Fragezeichen. 
           
          347. 
          Die Gläubigen und ihr Bedürfniss nach Glauben .
              — Wie viel einer   Glauben 
              nöthig hat, um zu gedeihen, wie viel „Festes“, an dem er nicht
              gerüttelt haben will, weil er sich daran   hält ,
              — ist ein Gradmesser seiner Kraft (oder, deutlicher geredet,
              seiner Schwäche). Christenthum haben, wie mir scheint, im alten
              Europa auch heute noch die Meisten nöthig: desshalb findet es auch
              immer noch Glauben. Denn so ist der Mensch: ein Glaubenssatz
              könnte ihm tausendfach widerlegt sein, — gesetzt, er hätte ihn
              nöthig, so würde er ihn auch immer wieder für „wahr“ halten, —
              gemäss jenem berühmten „Beweise der Kraft“, von dem die Bibel
              redet. Metaphysik haben Einige noch nöthig; aber auch jenes
              ungestüme   Verlangen nach Gewissheit ,
              welches sich heute in breiten Massen
              wissenschaftlich-positivistisch entladet, das Verlangen, durchaus
              etwas fest haben zu   wollen 
              (während man es wegen der Hitze dieses Verlangens mit der
              Begründung der Sicherheit leichter und lässlicher nimmt): auch das
              ist noch das Verlangen nach Halt, Stütze, kurz, jener   Instinkt der Schwäche , welcher
              Religionen, Metaphysiken, Ueberzeugungen aller Art zwar nicht
              schafft, aber — conservirt. In der That dampft um alle diese
              positivistischen Systeme der Qualm einer gewissen pessimistischen
              Verdüsterung, Etwas von Müdigkeit, Fatalismus, Enttäuschung,
              Furcht vor neuer Enttäuschung — oder aber zur Schau getragener
              Ingrimm, schlechte Laune, Entrüstungs-Anarchismus und was es alles
              für Symptome oder Maskeraden des Schwächegefühls giebt. Selbst die
              Heftigkeit, mit der sich unsre gescheidtesten Zeitgenossen in
              ärmliche Ecken und Engen verlieren, zum Beispiel in die
              Vaterländerei (so heisse ich das, was man in Frankreich
              chauvinisme, in Deutschland „deutsch“ nennt) oder in ästhetische
              Winkel-Bekenntnisse nach Art des Pariser naturalisme (der von der
              Natur nur den Theil hervorzieht und entblösst, welcher Ekel
              zugleich und Erstaunen macht — man heisst diesen Theil heute gern
              la verité vraie —) oder in Nihilismus nach Petersburger Muster
              (das heisst in den   Glauben an den
              Unglauben , bis zum Martyrium dafür) zeigt immer
              vorerst das   Bedürfniss 
              nach Glauben, Halt, Rückgrat, Rückhalt… Der Glaube ist immer dort
              am meisten begehrt, am dringlichsten nöthig, wo es an Willen
              fehlt: denn der Wille ist, als Affekt des Befehls, das
              entscheidende Abzeichen der Selbstherrlichkeit und Kraft. Das
              heisst, je weniger Einer zu befehlen weiss, um so dringlicher
              begehrt er nach Einem, der befiehlt, streng befiehlt, nach einem
              Gott, Fürsten, Stand, Arzt, Beichtvater, Dogma, Partei-Gewissen.
              Woraus vielleicht abzunehmen wäre, dass die beiden Weltreligionen,
              der Buddhismus und das Christenthum ihren Entstehungsgrund, ihr
              plötzliches Um-sich-greifen zumal, in einer ungeheuren   Erkrankung des Willens  gehabt haben
              möchten. Und so ist es in Wahrheit gewesen: beide Religionen
              fanden ein durch Willens-Erkrankung in’s Unsinnige aufgethürmtes,
              bis zur Verzweiflung gehendes Verlangen nach einem „du sollst“
              vor, beide Religionen waren Lehrerinnen des Fanatismus in Zeiten
              der Willens-Erschlaffung und boten damit Unzähligen einen Halt,
              eine neue Möglichkeit zu wollen, einen Genuss am Wollen. Der
              Fanatismus ist nämlich die einzige „Willensstärke“, zu der auch
              die Schwachen und Unsicheren gebracht werden können, als eine Art
              Hypnotisirung des ganzen sinnlich-intellektuellen Systems zu
              Gunsten der überreichlichen Ernährung (Hypertrophie) eines
              einzelnen Gesichts- und Gefühlspunktes, der nunmehr dominirt — der
              Christ heisst ihn seinen   Glauben .
              Wo ein Mensch zu der Grundüberzeugung kommt, dass ihm befohlen
              werden   muss , wird er
              „gläubig“; umgekehrt wäre eine Lust und Kraft der
              Selbstbestimmung, eine   Freiheit 
              des Willens denkbar, bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch
              nach Gewissheit den Abschied giebt, geübt, wie er ist, auf
              leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst
              an Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der   freie Geist  par excellence. 
           
          348. 
          Von der Herkunft der Gelehrten . —
              Der Gelehrte wächst in Europa aus aller Art Stand und
              gesellschaftlicher Bedingung heraus, als eine Pflanze, die keines
              spezifischen Erdreichs bedarf: darum gehört er, wesentlich und
              unfreiwillig, zu den Trägern des demokratischen Gedankens. Aber
              diese Herkunft verräth sich. Hat man seinen Blick etwas dafür
              eingeschult, an einem gelehrten Buche, einer wissenschaftlichen
              Abhandlung die intellektuelle   Idiosynkrasie 
              des Gelehrten — jeder Gelehrte hat eine solche — herauszuerkennen
              und auf der That zu ertappen, so wird man fast immer hinter ihr
              die „Vorgeschichte“ des Gelehrten, seine Familie, in Sonderheit
              deren Berufsarten und Handwerke zu Gesicht bekommen. Wo das Gefühl
              zum Ausdruck kommt „das ist nunmehr bewiesen, hiermit bin ich
              fertig“, da ist es gemeinhin der Vorfahr im Blute und Instinkte
              des Gelehrten, welcher von seinem Gesichtswinkel aus die „gemachte
              Arbeit“ gutheisst, — der Glaube an den Beweis ist nur ein Symptom
              davon, was in einem arbeitsamen Geschlechte von Alters her als
              „gute Arbeit“ angesehn worden ist. Ein Beispiel: die Söhne von
              Registratoren und Büreauschreibern jeder Art, deren Hauptaufgabe
              immer war, ein vielfältiges Material zu ordnen, in Schubfächer zu
              vertheilen, überhaupt zu schematisiren, zeigen, falls sie Gelehrte
              werden, eine Vorneigung dafür, ein Problem beinahe damit für
              gelöst zu halten, dass sie es schematisirt haben. Es giebt
              Philosophen, welche im Grunde nur schematische Köpfe sind — ihnen
              ist das Formale des väterlichen Handwerks zum Inhalte geworden.
              Das Talent zu Classificationen, zu Kategorientafeln verräth Etwas;
              man ist nicht ungestraft das Kind seiner Eltern. Der Sohn eines
              Advokaten wird auch als Forscher ein Advokat sein müssen: er will
              mit seiner Sache in erster Rücksicht Recht behalten, in zweiter,
              vielleicht, Recht haben. Die Söhne von protestantischen
              Geistlichen und Schullehrern erkennt man an der naiven Sicherheit,
              mit der sie als Gelehrte ihre Sache schon als bewiesen nehmen,
              wenn sie von ihnen eben erst nur herzhaft und mit Wärme
              vorgebracht worden ist: sie sind eben gründlich daran gewöhnt,
              dass man ihnen   glaubt ,
              — das gehörte bei ihren Vätern zum „Handwerk“! Ein Jude umgekehrt
              ist, gemäss dem Geschäftskreis und der Vergangenheit seines Volks,
              gerade daran — dass man ihm glaubt — am wenigsten gewöhnt: man
              sehe sich darauf die jüdischen Gelehrten an, — sie Alle halten
              grosse Stücke auf die Logik, das heisst auf das   Erzwingen 
              der Zustimmung durch Gründe; sie wissen, dass sie mit ihr siegen
              müssen, selbst wo Rassen- und Classen-Widerwille gegen sie
              vorhanden ist, wo man ihnen ungern glaubt. Nichts nämlich ist
              demokratischer als die Logik: sie kennt kein Ansehn der Person und
              nimmt auch die krummen Nasen für gerade. (Nebenbei bemerkt: Europa
              ist gerade in Hinsicht auf Logisirung, auf   reinlichere 
              Kopf-Gewohnheiten den Juden nicht wenig Dank schuldig; voran die
              Deutschen, als eine beklagenswerth deraisonnable Rasse, der man
              auch heute immer noch zuerst „den Kopf zu waschen“ hat. Ueberall,
              wo Juden zu Einfluss gekommen sind, haben sie ferner zu scheiden,
              schärfer zu folgern, heller und sauberer zu schreiben gelehrt:
              ihre Aufgabe war es immer, ein Volk „zur Raison“ zu bringen.) 
           
          349. 
          Noch einmal die Herkunft der Gelehrten .
              — Sich selbst erhalten wollen ist der Ausdruck einer Nothlage,
              einer Einschränkung des eigentlichen Lebens-Grundtriebes, der auf
              Machterweiterung 
              hinausgeht und in diesem Willen oft genug die Selbsterhaltung in
              Frage stellt und opfert. Man nehme es als symptomatisch, wenn
              einzelne Philosophen, wie zum Beispiel der schwindsüchtige
              Spinoza, gerade im sogenannten Selbsterhaltungs-Trieb das
              Entscheidende sahen, sehen mussten: — es waren eben Menschen in
              Nothlagen. Dass unsre modernen Naturwissenschaften sich dermaassen
              mit dem Spinozistischen Dogma verwickelt haben (zuletzt noch und
              am gröbsten im Darwinismus mit seiner unbegreiflich einseitigen
              Lehre vom „Kampf um’s Dasein“ —), das liegt wahrscheinlich an der
              Herkunft der meisten Naturforscher: sie gehören in dieser Hinsicht
              zum „Volk“, ihre Vorfahren waren arme und geringe Leute, welche
              die Schwierigkeit, sich durchzubringen, allzusehr aus der Nähe
              kannten. Um den ganzen englischen Darwinismus herum haucht Etwas
              wie englische Uebervölkerungs-Stickluft, wie Kleiner-Leute-Geruch
              von Noth und Enge. Aber man sollte, als Naturforscher, aus seinem
              menschlichen Winkel herauskommen: und in der Natur   herrscht  nicht die Nothlage, sondern
              der Ueberfluss, die Verschwendung, sogar bis in’s Unsinnige. Der
              Kampf um’s Dasein ist nur eine   Ausnahme ,
              eine zeitweilige Restriktion des Lebenswillens; der grosse und
              kleine Kampf dreht sich allenthalben um’s Uebergewicht, um
              Wachsthum und Ausbreitung, um Macht, gemäss dem Willen zur Macht,
              der eben der Wille des Lebens ist. 
           
          350. 
          Zu Ehren der homines religiosi . —
              Der Kampf gegen die Kirche ist ganz gewiss unter Anderem — denn er
              bedeutet Vielerlei — auch der Kampf der gemeineren vergnügteren
              vertraulicheren oberflächlicheren Naturen gegen die Herrschaft der
              schwereren tieferen beschaulicheren, das heisst böseren und
              argwöhnischeren Menschen, welche mit einem langen Verdachte über
              den Werth des Daseins, auch über den eignen Werth brüteten: — der
              gemeine Instinkt des Volkes, seine Sinnen-Lustigkeit, sein „gutes
              Herz“ empörte sich gegen sie. Die ganze römische Kirche ruht auf
              einem südländischen Argwohne über die Natur des Menschen, der vom
              Norden aus immer falsch verstanden wird: in welchem Argwohne der
              europäische Süden die Erbschaft des tiefen Orients, des uralten
              geheimnissreichen Asien und seiner Contemplation gemacht hat.
              Schon der Protestantismus ist ein Volksaufstand zu Gunsten der
              Biederen, Treuherzigen, Oberflächlichen (der Norden war immer
              gutmüthiger und flacher als der Süden); aber erst die französische
              Revolution hat dem „guten Menschen“ das Scepter vollends und
              feierlich in die Hand gegeben (dem Schaf, dem Esel, der Gans und
              Allem, was unheilbar flach und Schreihals und reif für das
              Narrenhaus der „modernen Ideen“ ist). 
           
          351. 
          Zu Ehren der priesterlichen Naturen .
              — Ich denke, von dem, was das Volk unter Weisheit versteht (und
              wer ist heute nicht „Volk“? —), von jener klugen kuhmässigen
              Gemüthsstille, Frömmigkeit und Landpfarrer-Sanftmuth, welche auf
              der Wiese liegt und dem Leben ernst und wiederkäuend   zuschaut , — davon haben gerade die
              Philosophen sich immer am fernsten gefühlt, wahrscheinlich weil
              sie dazu nicht „Volk“ genug, nicht Landpfarrer genug waren. Auch
              werden wohl sie gerade am spätesten daran glauben lernen, dass das
              Volk Etwas von dem verstehn   dürfte ,
              was ihm am fernsten liegt, von der grossen   Leidenschaft 
              des Erkennenden, der beständig in der Gewitterwolke der höchsten
              Probleme und der schwersten Verantwortlichkeiten lebt, leben muss
              (also ganz und gar nicht zuschauend, ausserhalb, gleichgültig,
              sicher, objektiv…). Das Volk verehrt eine ganz andere Art Mensch,
              wenn es seinerseits sich ein Ideal des „Weisen“ macht, und hat
              tausendfach Recht dazu, gerade dieser Art Mensch mit den besten
              Worten und Ehren zu huldigen: das sind die milden,
              ernst-einfältigen und keuschen Priester-Naturen und was ihnen
              verwandt ist, — denen gilt das Lob in jener Volks-Ehrfurcht vor
              der Weisheit. Und wem hätte das Volk auch Grund, dankbarer sich zu
              erweisen als diesen Männern, die zu ihm gehören und aus ihm
              kommen, aber wie Geweihte, Ausgelesene, seinem Wohl   Geopferte  — sie selber glauben sich
              Gott geopfert —, vor denen es ungestraft sein Herz ausschütten, an
              die es seine Heimlichkeiten, seine Sorgen und Schlimmeres  
            loswerden  kann (— denn der Mensch,
              der „sich mittheilt“, wird sich selber los; und wer „bekannt“ hat,
              vergisst). Hier gebietet eine grosse Nothdurft: es bedarf nämlich
              auch für den seelischen Unrath der Abzugsgräben und der reinlichen
              reinigenden Gewässer drin, es bedarf rascher Ströme der Liebe und
              starker demüthiger reiner Herzen, die zu einem solchen Dienste der
              nicht-öffentlichen Gesundheitspflege sich bereit machen und opfern
              — denn es   ist  eine
              Opferung, ein Priester ist und bleibt ein Menschenopfer… Das Volk
              empfindet solche geopferte stillgewordne ernste Menschen des
              „Glaubens“ als   weise ,
              das heisst als Wissend-Gewordene, als „Sichere“ im Verhältniss zur
              eigenen Unsicherheit: wer würde ihm das Wort und diese Ehrfurcht
              nehmen mögen? — Aber, wie es umgekehrt billig ist, unter
              Philosophen gilt auch ein Priester immer noch als „Volk“ und  
            nicht  als Wissender, vor Allem,
              weil sie selbst nicht an „Wissende“ glauben und eben in diesem
              Glauben und Aberglauben schon „Volk“ riechen. Die   Bescheidenheit  war es, welche in
              Griechenland das Wort „Philosoph“ erfunden hat und den
              prachtvollen Uebermuth, sich weise zu nennen, den Schauspielern
              des Geistes überliess, — die Bescheidenheit solcher Ungethüme von
              Stolz und Selbstherrlichkeit, wie Pythagoras, wie Plato —. 
           
          352. 
          Inwiefern Moral kaum entbehrlich ist .
              — Der nackte Mensch ist im Allgemeinen ein schändlicher Anblick —
              ich rede von uns Europäern (und nicht einmal von den
              Europäerinnen!) Angenommen, die froheste Tischgesellschaft sähe
              sich plötzlich durch die Tücke eines Zauberers enthüllt und
              ausgekleidet, ich glaube, dass nicht nur der Frohsinn dahin und
              der stärkste Appetit entmuthigt wäre, — es scheint, wir Europäer
              können jener Maskerade durchaus nicht entbehren, die Kleidung
              heisst. Sollte aber die Verkleidung der „moralischen Menschen“,
              ihre Verhüllung unter moralische Formeln und Anstandsbegriffe, das
              ganze wohlwollende Verstecken unserer Handlungen unter die
              Begriffe Pflicht, Tugend, Gemeinsinn, Ehrenhaftigkeit,
              Selbstverleugnung nicht seine ebenso guten Gründe haben? Nicht
              dass ich vermeinte, hierbei sollte etwa die menschliche Bosheit
              und Niederträchtigkeit, kurz das schlimme wilde Thier in uns
              vermummt werden; mein Gedanke ist umgekehrt, dass wir gerade als  
            zahme Thiere  ein schändlicher
              Anblick sind und die Moral-Verkleidung brauchen, — dass der
              „inwendige Mensch“ in Europa eben lange nicht schlimm genug ist,
              um sich damit „sehen lassen“ zu können (um damit   schön 
              zu sein —). Der Europäer verkleidet sich   in
              die Moral , weil er ein krankes, kränkliches,
              krüppelhaftes Thier geworden ist, das gute Gründe hat, „zahm“ zu
              sein, weil er beinahe eine Missgeburt, etwas Halbes, Schwaches,
              Linkisches ist… Nicht die Furchtbarkeit des Raubthiers findet eine
              moralische Verkleidung nöthig, sondern das Heerdenthier mit seiner
              tiefen Mittelmässigkeit, Angst und Langenweile an sich selbst.  
            Moral putzt den Europäer auf  —
              gestehen wir es ein! — in’s Vornehmere, Bedeutendere,
              Ansehnlichere, in’s „Göttliche“ — 
           
          353. 
          Vom Ursprung der Religionen . — Die
              eigentliche Erfindung der Religionsstifter ist einmal: eine
              bestimmte Art Leben und Alltag der Sitte anzusetzen, welche als
              disciplina voluntatis wirkt und zugleich die Langeweile
              wegschafft; sodann: gerade diesem Leben eine   Interpretation 
              zu geben, vermöge deren es vom höchsten Werthe umleuchtet scheint,
              so dass es nunmehr zu einem Gute wird, für das man kämpft und,
              unter Umständen, sein Leben lässt. In Wahrheit ist von diesen zwei
              Erfindungen die zweite die wesentlichere: die erste, die
              Lebensart, war gewöhnlich schon da, aber neben andren Lebensarten
              und ohne Bewusstsein davon, was für ein Werth ihr innewohne. Die
              Bedeutung, die Originalität des Religionsstifters kommt gewöhnlich
              darin zu Tage, dass er sie   sieht ,
              dass er sie   auswählt ,
              dass er zum ersten Male   erräth ,
              wozu sie gebraucht, wie sie interpretirt werden kann. Jesus (oder
              Paulus) zum Beispiel fand das Leben der kleinen Leute in der
              römischen Provinz vor, ein bescheidenes tugendhaftes gedrücktes
              Leben: er legte es aus, er legte den höchsten Sinn und Werth
              hinein — und damit den Muth, jede andre Art Leben zu verachten,
              den stillen Herrenhuter-Fanatismus, das heimliche unterirdische
              Selbstvertrauen, welches wächst und wächst und endlich bereit ist,
              „die Welt zu überwinden“ (das heisst Rom und die höheren Stände im
              ganzen Reiche). Buddha insgleichen fand jene Art Menschen vor, und
              zwar zerstreut unter alle Stände und gesellschaftliche Stufen
              seines Volks, welche aus Trägheit gut und gütig (vor Allem
              inoffensiv) sind, die, ebenfalls aus Trägheit, abstinent, beinahe
              bedürfnisslos leben: er verstand, wie eine solche Art Menschen mit
              Unvermeidlichkeit, mit der ganzen vis inertiae, in einen Glauben
              hineinrollen müsse, der die Wiederkehr der irdischen Mühsal (das
              heisst der Arbeit, des Handelns überhaupt) zu   verhüten 
              verspricht, — dies „Verstehen“ war sein Genie. Zum
              Religionsstifter gehört psychologische Unfehlbarkeit im Wissen um
              eine bestimmte Durchschnitts-Art von Seelen, die sich noch nicht
              als zusammengehörig   erkannt 
              haben. Er ist es, der sie zusammenbringt; die Gründung einer
              Religion wird insofern immer zu einem langen Erkennungs-Feste. — 
           
          354. 
          Vom „Genius der Gattung“ . — Das
              Problem des Bewusstseins (richtiger: des Sich-Bewusst-Werdens)
              tritt erst dann vor uns hin, wenn wir zu begreifen anfangen,
              inwiefern wir seiner entrathen könnten: und an diesen Anfang des
              Begreifens stellt uns jetzt Physiologie und Thiergeschichte
              (welche also zwei Jahrhunderte nöthig gehabt haben, um den
              vorausfliegenden Argwohn   Leibnitzens 
              einzuholen). Wir könnten nämlich denken, fühlen, wollen, uns
              erinnern, wir könnten ebenfalls „handeln“ in jedem Sinne des
              Wortes: und trotzdem brauchte das Alles nicht uns „in’s
              Bewusstsein zu treten“ (wie man im Bilde sagt). Das ganze Leben
              wäre möglich, ohne dass es sich gleichsam im Spiegel sähe: wie ja
              thatsächlich auch jetzt noch bei uns der bei weitem überwiegende
              Theil dieses Lebens sich ohne diese Spiegelung abspielt —, und
              zwar auch unsres denkenden, fühlenden, wollenden Lebens, so
              beleidigend dies einem älteren Philosophen klingen mag.   Wozu  überhaupt Bewusstsein, wenn es in
              der Hauptsache   überflüssig 
              ist? — Nun scheint mir, wenn man meiner Antwort auf diese Frage
              und ihrer vielleicht ausschweifenden Vermuthung Gehör geben will,
              die Feinheit und Stärke des Bewusstseins immer im Verhältniss zur
              Mittheilungs-Fähigkeit 
              eines Menschen (oder Thiers) zu stehn, die Mittheilungs-Fähigkeit
              wiederum im Verhältniss zur   Mittheilungs-Bedürftigkeit :
              letzteres nicht so verstanden, als ob gerade der einzelne Mensch
              selbst, welcher gerade Meister in der Mittheilung und
              Verständlichmachung seiner Bedürfnisse ist, zugleich auch mit
              seinen Bedürfnissen am meisten auf die Andern angewiesen sein
              müsste. Wohl aber scheint es mir so in Bezug auf ganze Rassen und
              Geschlechter-Ketten zu stehn: wo das Bedürfniss, die Noth die
              Menschen lange gezwungen hat, sich mitzutheilen, sich gegenseitig
              rasch und fein zu verstehen, da ist endlich ein Ueberschuss dieser
              Kraft und Kunst der Mittheilung da, gleichsam ein Vermögen, das
              sich allmählich aufgehäuft hat und nun eines Erben wartet, der es
              verschwenderisch ausgiebt (— die sogenannten Künstler sind diese
              Erben, insgleichen die Redner, Prediger, Schriftsteller, Alles
              Menschen, welche immer am Ende einer langen Kette kommen,
              „Spätgeborne“ jedes Mal, im besten Verstande des Wortes, und, wie
              gesagt, ihrem Wesen nach   Verschwender ).
              Gesetzt, diese Beobachtung ist richtig, so darf ich zu der
              Vermuthung weitergehn, dass   Bewusstsein
              überhaupt sich nur unter dem Druck des Mittheilungs-Bedürfnisses
              entwickelt hat , — dass es von vornherein nur zwischen
              Mensch und Mensch (zwischen Befehlenden und Gehorchenden in
              Sonderheit) nöthig war, nützlich war, und auch nur im Verhältniss
              zum Grade dieser Nützlichkeit sich entwickelt hat. Bewusstsein ist
              eigentlich nur ein Verbindungsnetz zwischen Mensch und Mensch, —
              nur als solches hat es sich entwickeln müssen: der einsiedlerische
              und raubthierhafte Mensch hätte seiner nicht bedurft. Dass uns
              unsre Handlungen, Gedanken, Gefühle, Bewegungen selbst in’s
              Bewusstsein kommen — wenigstens ein Theil derselben —, das ist die
              Folge eines furchtbaren langen über dem Menschen waltenden „Muss“:
              er   brauchte , als das
              gefährdetste Thier, Hülfe, Schutz, er brauchte Seines-Gleichen, er
              musste seine Noth auszudrücken, sich verständlich zu machen wissen
              — und zu dem Allen hatte er zuerst „Bewusstsein“ nöthig, also
              selbst zu „wissen“ was ihm fehlt, zu „wissen“, wie es ihm zu Muthe
              ist, zu „wissen“, was er denkt. Denn nochmals gesagt: der Mensch,
              wie jedes lebende Geschöpf, denkt immerfort, aber weiss es nicht;
              das   bewusst  werdende
              Denken ist nur der kleinste Theil davon, sagen wir: der
              oberflächlichste, der schlechteste Theil: — denn allein dieses
              bewusste Denken   geschieht in Worten,
              das heisst in Mittheilungszeichen , womit sich die
              Herkunft des Bewusstseins selber aufdeckt. Kurz gesagt, die
              Entwicklung der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins ( nicht  der Vernunft, sondern allein des
              Sich-bewusst-werdens der Vernunft) gehen Hand in Hand. Man nehme
              hinzu, dass nicht nur die Sprache zur Brücke zwischen Mensch und
              Mensch dient, sondern auch der Blick, der Druck, die Gebärde; das
              Bewusstwerden unserer Sinneseindrücke bei uns selbst, die Kraft,
              sie fixiren zu können und gleichsam ausser uns zu stellen, hat in
              dem Maasse zugenommen, als die Nöthigung wuchs, sie   Andern  durch Zeichen zu übermitteln.
              Der Zeichen-erfindende Mensch ist zugleich der immer schärfer
              seiner selbst bewusste Mensch; erst als sociales Thier lernte der
              Mensch seiner selbst bewusst werden, — er thut es noch, er thut es
              immer mehr. — Mein Gedanke ist, wie man sieht: dass das
              Bewusstsein nicht eigentlich zur Individual-Existenz des Menschen
              gehört, vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts- und
              Heerden-Natur ist; dass es, wie daraus folgt, auch nur in Bezug
              auf Gemeinschafts- und Heerden-Nützlichkeit fein entwickelt ist,
              und dass folglich Jeder von uns, beim besten Willen, sich selbst
              so individuell wie möglich zu   verstehen ,
              „sich selbst zu kennen“, doch immer nur gerade das
              Nicht-Individuelle an sich zum Bewusstsein bringen wird, sein
              „Durchschnittliches“, — dass unser Gedanke selbst fortwährend
              durch den Charakter des Bewusstseins — durch den in ihm
              gebietenden „Genius der Gattung“ — gleichsam   majorisirt 
              und in die Heerden-Perspektive zurück-übersetzt wird. Unsre
              Handlungen sind im Grunde allesammt auf eine unvergleichliche
              Weise persönlich, einzig, unbegrenzt-individuell, es ist kein
              Zweifel; aber sobald wir sie in’s Bewusstsein übersetzen,  
            scheinen sie es nicht mehr … Diess
              ist der eigentliche Phänomenalismus und Perspektivismus, wie  
            ich  ihn verstehe: die Natur des  
            thierischen Bewusstseins  bringt es
              mit sich, das die Welt, deren wir bewusst werden können, nur eine
              Oberflächen- und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine
              vergemeinerte Welt, — dass Alles, was bewusst wird, ebendamit
              flach, dünn, relativ-dumm, generell, Zeichen, Heerden-Merkzeichen
              wird , dass mit allem
              Bewusstwerden eine grosse gründliche Verderbniss, Fälschung,
              Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist. Zuletzt ist
              das wachsende Bewusstsein eine Gefahr; und wer unter den
              bewusstesten Europäern lebt, weiss sogar, dass es eine Krankheit
              ist. Es ist, wie man erräth, nicht der Gegensatz von Subjekt und
              Objekt, der mich hier angeht: diese Unterscheidung überlasse ich
              den Erkenntnisstheoretikern, welche in den Schlingen der Grammatik
              (der Volks-Metaphysik) hängen geblieben sind. Es ist erst recht
              nicht der Gegensatz von „Ding an sich“ und Erscheinung: denn wir
              „erkennen“ bei weitem nicht genug, um auch nur so   scheiden  zu dürfen. Wir haben eben gar
              kein Organ für das   Erkennen ,
              für die „Wahrheit“: wir „wissen“ (oder glauben oder bilden uns
              ein) gerade so viel als es im Interesse der Menschen-Heerde, der
              Gattung,   nützlich  sein
              mag: und selbst, was hier „Nützlichkeit“ genannt wird, ist zuletzt
              auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene
              verhängnissvollste Dummheit, an der wir einst zu Grunde gehn. 
           
          355. 
          Der Ursprung unsres Begriffs „Erkenntniss“ .
              — Ich nehme diese Erklärung von der Gasse; ich hörte Jemanden aus
              dem Volke sagen „er hat mich erkannt“ —: dabei fragte ich mich:
              was versteht eigentlich das Volk unter Erkenntniss? was will es,
              wenn es „Erkenntniss“ will? Nichts weiter als dies: etwas Fremdes
              soll auf etwas   Bekanntes 
              zurückgeführt werden. Und wir Philosophen — haben wir unter
              Erkenntniss eigentlich   mehr 
              verstanden? Das Bekannte, das heisst: das woran wir gewöhnt sind,
              so dass wir uns nicht mehr darüber wundern, unser Alltag, irgend
              eine Regel, in der wir stecken, Alles und Jedes, in dem wir uns zu
              Hause wissen: — wie? ist unser Bedürfniss nach Erkennen nicht eben
              dies Bedürfniss nach Bekanntem, der Wille, unter allem Fremden,
              Ungewöhnlichen, Fragwürdigen Etwas aufzudecken, das uns nicht mehr
              beunruhigt? Sollte es nicht der   Instinkt
              der Furcht  sein, der uns erkennen heisst? Sollte das
              Frohlocken des Erkennenden nicht eben das Frohlocken des wieder
              erlangten Sicherheitsgefühls sein?… Dieser Philosoph wähnte die
              Welt „erkannt“, als er sie auf die „Idee“ zurückgeführt hatte:
              ach, war es nicht deshalb, weil ihm die „Idee“ so bekannt, so
              gewohnt war? weil er sich so wenig mehr vor der „Idee“ fürchtete?
              — Oh über diese Genügsamkeit der Erkennenden! man sehe sich doch
              ihre Principien und Welträthsel-Lösungen darauf an! Wenn sie Etwas
              an den Dingen, unter den Dingen, hinter den Dingen wiederfinden,
              das uns leider sehr bekannt ist, zum Beispiel unser Einmaleins
              oder unsre Logik oder unser Wollen und Begehren, wie glücklich
              sind sie sofort! Denn „was bekannt ist, ist erkannt“: darin
              stimmen sie überein. Auch die Vorsichtigsten unter ihnen meinen,
              zum Mindesten sei das Bekannte   leichter
              erkennbar  als das Fremde; es sei zum Beispiel
              methodisch geboten, von der „inneren Welt“, von den „Thatsachen
              des Bewusstseins“ auszugehen, weil sie die   uns
              bekanntere  Welt sei! Irrthum der Irrthümer! Das
              Bekannte ist das Gewohnte; und das Gewohnte ist am schwersten zu
              „erkennen“, das heisst als Problem zu sehen, das heisst als fremd,
              als fern, als „ausser uns“ zu sehn… Die grosse Sicherheit der
              natürlichen Wissenschaften im Verhältniss zur Psychologie und
              Kritik der Bewusstseins-Elemente —   unnatürlichen 
              Wissenschaften, wie man beinahe sagen dürfte — ruht gerade darauf,
              dass sie das   Fremde  als
              Objekt nehmen: während es fast etwas Widerspruchsvolles und
              Widersinniges ist, das Nicht-Fremde überhaupt als Objekt nehmen zu
              wollen … 
           
          356. 
          Inwiefern es in Europa immer „künstlerischer“
              zugehn wird . — Die Lebens-Fürsorge zwingt auch heute
              noch — in unsrer Uebergangszeit, wo so Vieles aufhört zu zwingen —
              fast allen männlichen Europäern eine bestimmte   Rolle 
              auf, ihren sogenannten Beruf; Einigen bleibt dabei die Freiheit,
              eine anscheinende Freiheit, diese Rolle selbst zu wählen, den
              Meisten wird sie gewählt. Das Ergebniss ist seltsam genug: fast
              alle Europäer verwechseln sich in einem vorgerückteren Alter mit
              ihrer Rolle, sie selbst sind die Opfer ihres „guten Spiels“, sie
              selbst haben vergessen, wie sehr Zufall, Laune, Willkür damals
              über sie verfügt haben, als sich ihr „Beruf“ entschied — und wie
              viele andre Rollen sie vielleicht hätten spielen   können :
              denn es ist nunmehr zu spät! Tiefer angesehn, ist aus der Rolle
              wirklich Charakter   geworden ,
              aus der Kunst Natur. Es gab Zeitalter, in denen man mit steifer
              Zuversichtlichkeit, ja mit Frömmigkeit an seine Vorherbestimmung
              für gerade dies Geschäft, gerade diesen Broderwerb glaubte und den
              Zufall darin, die Rolle, das Willkürliche schlechterdings nicht
              anerkennen wollte: Stände, Zünfte, erbliche Gewerbs-Vorrechte
              haben mit Hülfe dieses Glaubens es zu Stande gebracht, jene
              Ungeheuer von breiten Gesellschafts-Thürmen aufzurichten, welche
              das Mittelalter auszeichnen und denen jedenfalls Eins nachzurühmen
              bleibt: Dauerfähigkeit (— und Dauer ist auf Erden ein Werth ersten
              Ranges!). Aber es giebt umgekehrte Zeitalter, die eigentlich
              demokratischen, wo man diesen Glauben mehr und mehr verlernt und
              ein gewisser kecker Glaube und Gesichtspunkt des Gegentheils in
              den Vordergrund tritt, jener Athener-Glaube, der in der Epoche des
              Perikles zuerst bemerkt wird, jener Amerikaner-Glaube von heute,
              der immer mehr auch Europäer-Glaube werden will: wo der Einzelne
              überzeugt ist, ungefähr Alles zu können, ungefähr   jeder Rolle gewachsen  zu sein, wo Jeder
              mit sich versucht, improvisirt, neu versucht, mit Lust versucht,
              wo alle Natur aufhört und Kunst wird… Die Griechen, erst in diesen
              Rollen-Glauben  — einen
              Artisten-Glauben, wenn man will — eingetreten, machten, wie
              bekannt, Schritt für Schritt eine wunderliche und nicht in jedem
              Betracht nachahmenswerthe Verwandlung durch:   sie
              wurden wirklich Schauspieler ; als solche bezauberten
              sie, überwanden sie alle Welt und zuletzt selbst die
              „Weltüberwinderin“ (denn der Graeculus histrio hat Rom besiegt,
              und   nicht , wie die
              Unschuldigen zu sagen pflegen, die griechische Cultur…). Aber was
              ich fürchte, was man heute schon mit Händen greift, falls man Lust
              hätte, darnach zu greifen, wir modernen Menschen sind ganz schon
              auf dem gleichen Wege; und jedes Mal, wenn der Mensch anfängt zu
              entdecken, inwiefern er eine Rolle spielt und inwieweit er
              Schauspieler sein   kann, wird 
              er Schauspieler… Damit kommt dann eine neue Flora und Fauna von
              Menschen herauf, die in festeren, beschränkteren Zeitaltern nicht
              wachsen können — oder „unten“ gelassen werden, unter dem Banne und
              Verdachte der Ehrlosigkeit —, es kommen damit jedes Mal die
              interessantesten und tollsten Zeitalter der Geschichte herauf, in
              denen die „Schauspieler“,   alle 
              Arten Schauspieler, die eigentlichen Herren sind. Eben dadurch
              wird eine andre Gattung Mensch immer tiefer benachtheiligt,
              endlich unmöglich gemacht, vor Allem die grossen „Baumeister“;
              jetzt erlahmt die bauende Kraft; der Muth, auf lange Fernen hin
              Pläne zu machen, wird entmuthigt; die organisatorischen Genies
              fangen an zu fehlen: — wer wagt es nunmehr noch, Werke zu
              unternehmen, zu deren Vollendung man auf Jahrtausende   rechnen  müsste? Es stirbt eben jener
              Grundglaube aus, auf welchen hin Einer dergestalt rechnen,
              versprechen, die Zukunft im Plane vorwegnehmen, seinem Plane zum
              Opfer bringen kann, dass nämlich der Mensch nur insofern Werth
              hat, Sinn hat, als er   ein Stein in
              einem grossen Baue  ist: wozu er zuallererst  
            fest  sein muss, „Stein“ sein muss…
              Vor Allem nicht — Schauspieler! Kurz gesagt — ach, es wird lang
              genug noch verschwiegen werden! — was von nun an nicht mehr gebaut
              wird, nicht mehr gebaut werden   kann ,
              das ist — eine Gesellschaft im alten Verstande des Wortes; um
              diesen Bau zu bauen, fehlt Alles, voran das Material.   Wir Alle sind kein Material mehr für eine
              Gesellschaft : das ist eine Wahrheit, die an der Zeit
              ist! Es dünkt mich gleichgültig, dass einstweilen noch die
              kurzsichtigste, vielleicht ehrlichste, jedenfalls lärmendste Art
              Mensch, die es heute giebt, unsre Herrn Socialisten, ungefähr das
              Gegentheil glaubt, hofft, träumt, vor Allem schreit und schreibt;
              man liest ja ihr Zukunftswort „freie Gesellschaft“ bereits auf
              allen Tischen und Wänden. Freie Gesellschaft? Ja! Ja! Aber ihr
              wisst doch, ihr Herren, woraus man die baut? Aus hölzernem Eisen!
              Aus dem berühmten hölzernen Eisen! Und noch nicht einmal aus
              hölzernem… 
           
          357. 
          Zum alten Probleme: „was ist deutsch?“ 
              — Man rechne bei sich die eigentlichen Errungenschaften des
              philosophischen Gedankens nach, welche deutschen Köpfen verdankt
              werden: sind sie in irgend einem erlaubten Sinne auch noch der
              ganzen Rasse zu Gute zu rechnen? Dürfen wir sagen: sie sind
              zugleich das Werk der „deutschen Seele“, mindestens deren Symptom,
              in dem Sinne, in welchem wir etwa Plato’s Ideomanie, seinen fast
              religiösen Formen-Wahnsinn zugleich als ein Ereigniss und Zeugniss
              der „griechischen Seele“ zu nehmen gewohnt sind? Oder wäre das
              Umgekehrte wahr? wären sie gerade so individuell, so sehr  
            Ausnahme  vom Geiste der Rasse, wie
              es zum Beispiel Goethe’s Heidenthum mit gutem Gewissen war? Oder
              wie es Bismarck’s Macchiavellismus mit gutem Gewissen, seine
              sogenannte „Realpolitik“, unter Deutschen ist? Widersprächen unsre
              Philosophen vielleicht sogar dem   Bedürfnisse 
              der „deutschen Seele“? Kurz, waren die deutschen Philosophen
              wirklich — philosophische   Deutsche ?
              — Ich erinnere an drei Fälle. Zuerst an   Leibnitzens 
              unvergleichliche Einsicht, mit der er nicht nur gegen Descartes,
              sondern gegen Alles, was bis zu ihm philosophirt hatte, Recht
              bekam, — dass die Bewusstheit nur ein Accidens der Vorstellung
              ist,   nicht  deren
              nothwendiges und wesentliches Attribut, dass also das, was wir
              Bewusstsein nennen, nur einen Zustand unsrer geistigen und
              seelischen Welt ausmacht (vielleicht einen krankhaften Zustand)
              und   bei weitem nicht sie selbst :
              — ist an diesem Gedanken, dessen Tiefe auch heute noch nicht
              ausgeschöpft ist, etwas Deutsches? Giebt es einen Grund zu
              muthmaassen, dass nicht leicht ein Lateiner auf diese Umdrehung
              des Augenscheins verfallen sein würde? — denn es ist eine
              Umdrehung. Erinnern wir uns zweitens an   Kant’s 
              ungeheures Fragezeichen, welches er an den Begriff „Causalität“
              schrieb, — nicht dass er wie Hume dessen Recht überhaupt
              bezweifelt hätte: er begann vielmehr vorsichtig das Reich
              abzugrenzen, innerhalb dessen dieser Begriff überhaupt Sinn hat
              (man ist auch jetzt noch nicht mit dieser Grenzabsteckung fertig
              geworden). Nehmen wir drittens den erstaunlichen Griff   Hegel’s , der damit durch alle logischen
              Gewohnheiten und Verwöhnungen durchgriff, als er zu lehren wagte,
              dass die Artbegriffe sich   aus
              einander  entwickeln: mit welchem Satze die Geister in
              Europa zur letzten grossen wissenschaftlichen Bewegung präformirt
              wurden, zum Darwinismus — denn ohne Hegel kein Darwin. Ist an
              dieser Hegelschen Neuerung, die erst den entscheidenden Begriff
              „Entwicklung“ in die Wissenschaft gebracht hat, etwas Deutsches? —
              Ja, ohne allen Zweifel: in allen drei Fällen fühlen wir Etwas von
              uns selbst „aufgedeckt“ und errathen und sind dankbar dafür und
              überrascht zugleich, jeder dieser drei Sätze ist ein
              nachdenkliches Stück deutscher Selbsterkenntniss, Selbsterfahrung,
              Selbsterfassung. „Unsre innre Welt ist viel reicher, umfänglicher,
              verborgener“, so empfinden wir mit Leibnitz; als Deutsche zweifeln
              wir mit Kant an der Letztgültigkeit naturwissenschaftlicher
              Erkenntnisse und überhaupt an Allem, was sich causaliter erkennen
              lässt : das Erkenn bare  scheint uns als solches schon  
            geringeren  Werthes. Wir Deutsche
              sind Hegelianer, auch wenn es nie einen Hegel gegeben hätte,
              insofern wir (im Gegensatz zu allen Lateinern) dem Werden, der
              Entwicklung instinktiv einen tieferen Sinn und reicheren Werth
              zumessen als dem, was „ist“ — wir glauben kaum an die Berechtigung
              des Begriffs „Sein“ —; ebenfalls insofern wir unsrer menschlichen
              Logik nicht geneigt sind einzuräumen, dass sie die Logik an sich,
              die einzige Art Logik sei (wir möchten vielmehr uns überreden,
              dass sie nur ein Spezialfall sei, und vielleicht einer der
              wunderlichsten und dümmsten —). Eine vierte Frage wäre, ob auch  
            Schopenhauer  mit seinem
              Pessimismus, das heisst dem Problem vom   Werth
              des Daseins , gerade ein Deutscher gewesen sein
              müsste. Ich glaube nicht. Das Ereigniss,   nach 
              welchem dies Problem mit Sicherheit zu erwarten stand, so dass ein
              Astronom der Seele Tag und Stunde dafür hätte ausrechnen können,
              der Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott, der Sieg des
              wissenschaftlichen Atheismus, ist ein gesammt-europäisches
              Ereigniss, an dem alle Rassen ihren Antheil von Verdienst und Ehre
              haben sollen. Umgekehrt wäre gerade den Deutschen zuzurechnen —
              jenen Deutschen, mit welchen Schopenhauer gleichzeitig lebte —,
              diesen Sieg des Atheismus am längsten und gefährlichsten  
            verzögert  zu haben; Hegel
              namentlich war sein Verzögerer par excellence, gemäss dem
              grandiosen Versuche, den er machte, uns zur Göttlichkeit des
              Daseins zu allerletzt noch mit Hülfe unsres sechsten Sinnes, des
              „historischen Sinnes“ zu überreden. Schopenhauer war als Philosoph
              der   erste 
              eingeständliche und unbeugsame Atheist, den wir Deutschen gehabt
              haben: seine Feindschaft gegen Hegel hatte hier ihren Hintergrund.
              Die Ungöttlichkeit des Daseins galt ihm als etwas Gegebenes,
              Greifliches, Undiskutirbares; er verlor jedes Mal seine
              Philosophen-Besonnenheit und gerieth in Entrüstung, wenn er
              Jemanden hier zögern und Umschweife machen sah. An dieser Stelle
              liegt seine ganze Rechtschaffenheit: der unbedingte redliche
              Atheismus ist eben die   Voraussetzung 
              seiner Problemstellung, als ein endlich und schwer errungener Sieg
              des europäischen Gewissens, als der folgenreichste Akt einer
              zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich
              die   Lüge  im Glauben an
              Gott verbietet… Man sieht,   was 
              eigentlich über den christlichen Gott gesiegt hat: die christliche
              Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der
              Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen
              Gewissens, übersetzt und sublimirt zum wissenschaftlichen
              Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. Die Natur
              ansehn, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes
              sei; die Geschichte interpretiren zu Ehren einer göttlichen
              Vernunft, als beständiges Zeugniss einer sittlichen Weltordnung
              und sittlicher Schlussabsichten; die eigenen Erlebnisse auslegen,
              wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob
              Alles Fügung, Alles Wink, Alles dem Heil der Seele zu Liebe
              ausgedacht und geschickt sei: das ist nunmehr   vorbei ,
              das hat das Gewissen   gegen 
              sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich,
              als Lügnerei, Femininismus, Schwachheit, Feigheit, — mit dieser
              Strenge, wenn irgend womit, sind wir eben   gute 
              Europäer und Erben von Europa’s längster und tapferster
              Selbstüberwindung. Indem wir die christliche Interpretation
              dergestalt von uns stossen und ihren „Sinn“ wie eine
              Falschmünzerei verurtheilen, kommt nun sofort auf eine furchtbare
              Weise die   Schopenhauerische 
              Frage zu uns:   hat denn das Dasein
              überhaupt einen Sinn?  — jene Frage, die ein paar
              Jahrhunderte brauchen wird, um auch nur vollständig und in alle
              ihre Tiefe hinein gehört zu werden. Was Schopenhauer selbst auf
              diese Frage geantwortet hat, war — man vergebe es mir — etwas
              Voreiliges, Jugendliches, nur eine Abfindung, ein Stehen- und
              Steckenbleiben in eben den christlich-asketischen
              Moral-Perspektiven, welchen, mit dem Glauben an Gott,   der Glaube gekündigt war … Aber er hat
              die Frage   gestellt  —
              als ein guter Europäer, wie gesagt, und   nicht 
              als Deutscher. — Oder hätten etwa die Deutschen, wenigstens mit
              der Art, in welcher sie sich der Schopenhauerischen Frage
              bemächtigten, ihre innere Zugehörigkeit und Verwandtschaft, ihre
              Vorbereitung, ihr   Bedürfniss 
              nach seinem Problem bewiesen? Dass nach Schopenhauer auch in
              Deutschland — übrigens spät genug! — über das von ihm aufgestellte
              Problem gedacht und gedruckt worden ist, reicht gewiss nicht aus,
              zu Gunsten dieser engeren Zugehörigkeit zu entscheiden; man könnte
              selbst die eigenthümliche   Ungeschicktheit 
              dieses Nach-Schopenhauerischen Pessimismus dagegen geltend machen,
              — die Deutschen benahmen sich ersichtlich nicht dabei wie in ihrem
              Elemente. Hiermit spiele ich ganz und gar nicht auf Eduard von
              Hartmann an; im Gegentheil, mein alter Verdacht ist auch heute
              noch nicht gehoben, dass er für uns   zu
              geschickt  ist, ich will sagen, dass er als arger
              Schalk von Anbeginn sich vielleicht nicht nur über den deutschen
              Pessimismus lustig gemacht hat, — dass er am Ende etwa gar es den
              Deutschen testamentarisch „vermachen“ könnte, wie weit man sie
              selbst, im Zeitalter der Gründungen, hat zum Narren haben können.
              Aber ich frage: soll man vielleicht den alten Brummkreisel Bahnsen
              den Deutschen zu Ehren rechnen, der sich mit Wollust sein Leben
              lang um sein realdialektisches Elend und „persönliches Pech“
              gedreht hat, — wäre etwa das gerade deutsch? (ich empfehle anbei
              seine Schriften, wozu ich sie selbst gebraucht habe, als
              antipessimistische Kost, namentlich um seiner elegantiae
              psychologicae willen, mit denen, wie mich dünkt, auch dem
              verstopftesten Leibe und Gemüthe beizukommen ist). Oder dürfte man
              solche Dilettanten und alte Jungfern, wie den süsslichen
              Virginitäts-Apostel Mainländer unter die rechten Deutschen zählen?
              Zuletzt wird es ein Jude gewesen sein (— alle Juden werden
              süsslich, wenn sie moralisiren). Weder Bahnsen, noch Mainländer,
              noch gar Eduard von Hartmann geben eine sichere Handhabe für die
              Frage ab, ob der Pessimismus Schopenhauer’s, sein entsetzter Blick
              in eine entgöttlichte, dumm, blind, verrückt und fragwürdig
              gewordene Welt, sein   ehrliches 
              Entsetzen… nicht nur ein Ausnahme-Fall unter Deutschen, sondern
              ein   deutsches  Ereigniss
              gewesen ist: während Alles, was sonst im Vordergrunde steht, unsre
              tapfre Politik, unsre fröhliche Vaterländerei, welche entschlossen
              genug alle Dinge auf ein wenig philosophisches Princip hin
              („Deutschland, Deutschland über Alles“) betrachtet, also sub
              specie speciei, nämlich der deutschen species, mit grosser
              Deutlichkeit das Gegentheil bezeugt. Nein! die Deutschen von heute
              sind   keine  Pessimisten!
              Und Schopenhauer war Pessimist, nochmals gesagt, als guter
              Europäer und   nicht  als
              Deutscher. — 
           
          358. 
          Der Bauernaufstand des Geistes . —
              Wir Europäer befinden uns im Anblick einer ungeheuren Trümmerwelt,
              wo Einiges noch hoch ragt, wo Vieles morsch und unheimlich
              dasteht, das Meiste aber schon am Boden liegt, malerisch genug —
              wo gab es je schönere Ruinen? — und überwachsen mit grossem und
              kleinem Unkraute. Die Kirche ist diese Stadt des Untergangs: wir
              sehen die religiöse Gesellschaft des Christenthums bis in die
              untersten Fundamente erschüttert, — der Glaube an Gott ist
              umgestürzt, der Glaube an das christlich-aketische Ideal kämpft
              eben noch seinen letzten Kampf. Ein solches lang und gründlich
              gebautes Werk wie das Christenthum — es war der letzte Römerbau! —
              konnte freilich nicht mit Einem Male zerstört werden; alle Art
              Erdbeben hat da rütteln, alle Art Geist, die anbohrt, gräbt, nagt,
              feuchtet, hat da helfen müssen. Aber was das Wunderlichste ist:
              Die, welche sich am meisten darum bemüht haben, das Christenthum
              zu halten, zu erhalten, sind gerade seine besten Zerstörer
              geworden, — die Deutschen. Es scheint, die Deutschen verstehen das
              Wesen einer Kirche nicht. Sind sie dazu nicht geistig genug? nicht
              misstrauisch genug? Der Bau der Kirche ruht jedenfalls auf einer  
            südländischen  Freiheit und
              Freisinnigkeit des Geistes und ebenso auf einem südländischen
              Verdachte gegen Natur, Mensch und Geist, — er ruht auf einer ganz
              andren Kenntniss des Menschen, Erfahrung vom Menschen, als der
              Norden gehabt hat. Die Lutherische Reformation war in ihrer ganzen
              Breite die Entrüstung der Einfalt gegen etwas „Vielfältiges“, um
              vorsichtig zu reden, ein grobes biederes Missverständniss, an dem
              Viel zu verzeihen ist, — man begriff den Ausdruck einer   siegreichen  Kirche nicht und sah nur
              Corruption, man missverstand die vornehme Skepsis, jenen  
            Luxus  von Skepsis und Toleranz,
              welchen sich jede siegreiche selbstgewisse Macht gestattet… Man
              übersieht heute gut genug, wie Luther in allen kardinalen Fragen
              der Macht verhängnissvoll kurz, oberflächlich, unvorsichtig
              angelegt war, vor Allem als Mann aus dem Volke, dem alle Erbschaft
              einer herrschenden Kaste, aller Instinkt für Macht abgieng: so
              dass sein Werk, sein Wille zur Wiederherstellung jenes
              Römer-Werks, ohne dass er es wollte und wusste, nur der Anfang
              eines Zerstörungswerks wurde. Er dröselte auf, er riss zusammen,
              mit ehrlichem Ingrimme, wo die alte Spinne am sorgsamsten und
              längsten gewoben hatte. Er lieferte die heiligen Bücher an
              Jedermann aus, — damit geriethen sie endlich in die Hände der
              Philologen, das heisst der Vernichter jeden Glaubens, der auf
              Büchern ruht. Er zerstörte den Begriff „Kirche“, indem er den
              Glauben an die Inspiration der Concilien wegwarf: denn nur unter
              der Voraussetzung, dass der inspirirende Geist, der die Kirche
              gegründet hat, in ihr noch lebe, noch baue, noch fortfahre, sein
              Haus zu bauen, behält der Begriff „Kirche“ Kraft. Er gab dem
              Priester den Geschlechtsverkehr mit dem Weibe zurück: aber drei
              Viertel der Ehrfurcht, deren das Volk, vor Allem das Weib aus dem
              Volke fähig ist, ruht auf dem Glauben, dass ein Ausnahme-Mensch in
              diesem Punkte auch in andren Punkten eine Ausnahme sein wird, —
              hier gerade hat der Volksglaube an etwas Uebermenschliches im
              Menschen, an das Wunder, an den erlösenden Gott im Menschen,
              seinen feinsten und verfänglichsten Anwalt. Luther musste dem
              Priester, nachdem er ihm das Weib gegeben hatte, die Ohrenbeichte
              nehmen , das war
              psychologisch richtig: aber damit war im Grunde der christliche
              Priester selbst abgeschafft, dessen tiefste Nützlichkeit immer die
              gewesen ist, ein heiliges Ohr, ein verschwiegener Brunnen, ein
              Grab für Geheimnisse zu sein. „Jedermann sein eigner Priester“ —
              hinter solchen Formeln und ihrer bäurischen Verschlagenheit
              versteckte sich bei Luther der abgründliche Hass auf den „höheren
              Menschen“ und die Herrschaft des „höheren Menschen“, wie ihn die
              Kirche concipirt hatte: — er zerschlug ein Ideal, das er nicht zu
              erreichen wusste, während er die Entartung dieses Ideals zu
              bekämpfen und zu verabscheuen schien. Thatsächlich stiess er, der
              unmögliche Mönch, die   Herrschaft 
              der homines religiosi von sich; er machte also gerade Das selber
              innerhalb der kirchlichen Gesellschafts-Ordnung, was er in
              Hinsicht auf die bürgerliche Ordnung so unduldsam bekämpfte, —
              einen „Bauernaufstand“. — Was hinterdrein Alles aus seiner
              Reformation gewachsen ist, Gutes und Schlimmes, und heute ungefähr
              überrechnet werden kann, — wer wäre wohl naiv genug, Luthern um
              dieser Folgen willen einfach zu loben oder zu tadeln? Er ist an
              Allem unschuldig, er wusste nicht was er that. Die Verflachung des
              europäischen Geistes, namentlich im Norden, seine   Vergutmüthigung , wenn man’s lieber mit
              einem moralischen Worte bezeichnet hört, that mit der Lutherischen
              Reformation einen tüchtigen Schritt vorwärts, es ist kein Zweifel;
              und ebenso wuchs durch sie die Beweglichkeit und Unruhe des
              Geistes, sein Durst nach Unabhängigkeit, sein Glaube an ein Recht
              auf Freiheit, seine „Natürlichkeit“. Will man ihr in letzterer
              Hinsicht den Werth zugestehn, Das vorbereitet und begünstigt zu
              haben, was wir heute als „moderne Wissenschaft“ verehren, so muss
              man freilich hinzufügen, dass sie auch an der Entartung des
              modernen Gelehrten mitschuldig ist, an seinem Mangel an Ehrfurcht,
              Scham und Tiefe, an der ganzen naiven Treuherzigkeit und
              Biedermännerei in Dingen der Erkenntniss, kurz an jenem   Plebejismus des Geistes , der den
              letzten beiden Jahrhunderten eigenthümlich ist und von dem uns
              auch der bisherige Pessimismus noch keineswegs erlöst hat, — auch
              die „modernen Ideen“ gehören noch zu diesem Bauernaufstand des
              Nordens gegen den kälteren, zweideutigeren, misstrauischeren Geist
              des Südens, der sich in der christlichen Kirche sein grösstes
              Denkmal gebaut hat. Vergessen wir es zuletzt nicht, was eine
              Kirche ist, und zwar im Gegensatz zu jedem „Staate“: eine Kirche
              ist vor Allem ein Herrschafts-Gebilde, das den   geistigeren 
              Menschen den obersten Rang sichert und an die Macht der
              Geistigkeit soweit   glaubt ,
              um sich alle gröberen Gewaltmittel zu verbieten, — damit allein
              ist die Kirche unter allen Umständen eine   vornehmere 
              Institution als der Staat. — 
           
          359. 
          Die Rache am Geist und andere Hintergründe der
              Moral . — Die Moral — wo glaubt ihr wohl, dass sie
              ihre gefährlichsten und tückischsten Anwälte hat?… Da ist ein
              missrathener Mensch, der nicht genug Geist besitzt, um sich dessen
              freuen zu können, und gerade Bildung genug, um das zu wissen;
              gelangweilt, überdrüssig, ein Selbstverächter; durch etwas
              ererbtes Vermögen leider noch um den letzten Trost betrogen, den
              „Segen der Arbeit“, die Selbstvergessenheit im „Tagewerk“; ein
              Solcher, der sich seines Daseins im Grunde schämt — vielleicht
              herbergt er dazu ein paar kleine Laster — und andrerseits nicht
              umhin kann, durch Bücher, auf die er kein Recht hat, oder
              geistigere Gesellschaft als er verdauen kann, sich immer schlimmer
              zu verwöhnen und eitel-reizbar zu machen: ein solcher durch und
              durch vergifteter Mensch — denn Geist wird Gift, Bildung wird
              Gift, Besitz wird Gift, Einsamkeit wird Gift bei dergestalt
              Missrathenen — geräth schliesslich in einen habituellen Zustand
              der Rache, des Willens zur Rache…   was 
              glaubt ihr wohl, dass er nöthig, unbedingt nöthig hat, um sich bei
              sich selbst den Anschein von Ueberlegenheit über geistigere
              Menschen, um sich die Lust der   vollzogenen
              Rache , wenigstens für seine Einbildung, zu schaffen?
              Immer   die Moralität ,
              darauf darf man wetten, immer die grossen Moral-Worte, immer das
              Bumbum von Gerechtigkeit, Weisheit, Heiligkeit, Tugend, immer den
              Stoicismus der Gebärde (— wie gut versteckt der Stoicismus was
              Einer   nicht  hat!…),
              immer den Mantel des klugen Schweigens, der Leutseligkeit, der
              Milde, und wie alle die Idealisten-Mäntel heissen, unter denen die
              unheilbaren Selbstverächter, auch die unheilbar Eiteln, herum
              gehn. Man verstehe mich nicht falsch: aus solchen geborenen  
            Feinden des Geistes  entsteht
              mitunter jenes seltene Stück Menschthum, das vom Volke unter dem
              Namen des Heiligen, des Weisen verehrt wird; aus solchen Menschen
              kommen jene Unthiere der Moral her, welche Lärm machen, Geschichte
              machen, — der heilige Augustin gehört zu ihnen. Die Furcht vor dem
              Geist, die Rache am Geist — oh wie oft wurden diese triebkräftigen
              Laster schon zur Wurzel von Tugenden! Ja   zur 
              Tugend! — Und, unter uns gefragt, selbst jener
              Philosophen-Anspruch auf   Weisheit ,
              der hier und da einmal auf Erden gemacht worden ist, der tollste
              und unbescheidenste aller Ansprüche, — war er nicht immer bisher,
              in Indien, wie in Griechenland,   vor
              Allem ein Versteck ? Mitunter vielleicht im
              Gesichtspunkte der Erziehung, der so viele Lügen heiligt, als
              zarte Rücksicht auf Werdende, Wachsende, auf Jünger, welche oft
              durch den Glauben an die Person (durch einen Irrthum) gegen sich
              selbst vertheidigt werden müssen… In den häufigeren Fällen aber
              ein Versteck des Philosophen, hinter welches er sich aus Ermüdung,
              Alter, Erkaltung, Verhärtung rettet, als Gefühl vom nahen Ende,
              als Klugheit jenes Instinkts, den die Thiere vor dem Tode haben, —
              sie gehen bei Seite, werden still, wählen die Einsamkeit,
              verkriechen sich in Höhlen, werden   weise …
              Wie? Weisheit ein Versteck des Philosophen vor — dem Geiste? — 
           
          360. 
          Zwei Arten Ursache, die man verwechselt .
              — Das erscheint mir als einer meiner wesentlichsten Schritte und
              Fortschritte: ich lernte die Ursache des Handelns unterscheiden
              von der Ursache des So- und So-Handelns, des In-dieser Richtung-,
              Auf-dieses Ziel hin-Handelns. Die erste Art Ursache ist ein
              Quantum von aufgestauter Kraft, welches darauf wartet, irgend wie,
              irgend wozu verbraucht zu werden; die zweite Art ist dagegen etwas
              an dieser Kraft gemessen ganz Unbedeutendes, ein kleiner Zufall
              zumeist, gemäss dem jenes Quantum sich nunmehr auf Eine und
              bestimmte Weise „auslöst“: das Streichholz im Verhältniss zur
              Pulvertonne. Unter diese kleinen Zufälle und Streichhölzer rechne
              ich alle sogenannten „Zwecke“, ebenso die noch viel sogenannteren
              „Lebensberufe“: sie sind relativ beliebig, willkürlich, fast
              gleichgültig im Verhältniss zu dem ungeheuren Quantum Kraft,
              welches darnach drängt, wie gesagt, irgendwie aufgebraucht zu
              werden. Man sieht es gemeinhin anders an: man ist gewohnt, gerade
              in dem Ziele (Zwecke, Berufe u.s.w.) die   treibende 
              Kraft zu sehn, gemäss einem uralten Irrthume, — aber er ist nur
              die   dirigirende  Kraft,
              man hat dabei den Steuermann und den Dampf verwechselt. Und noch
              nicht einmal immer den Steuermann, die dirigirende Kraft… Ist das
              „Ziel“, der „Zweck“ nicht oft genug nur ein beschönigender
              Vorwand, eine nachträgliche Selbstverblendung der Eitelkeit, die
              es nicht Wort haben will, dass das Schiff der Strömung   folgt , in die es zufällig gerathen ist?
              Dass es dorthin „will“,   weil 
              es dorthin —   muss ? Dass
              es wohl eine Richtung hat, aber ganz und gar — keinen Steuermann?
              — Man bedarf noch einer Kritik des Begriffs „Zweck“. 
           
          361. 
          Vom Probleme des Schauspielers . —
              Das Problem des Schauspielers hat mich am längsten beunruhigt; ich
              war im Ungewissen darüber (und bin es mitunter jetzt noch), ob man
              nicht erst von da aus dem gefährlichen Begriff „Künstler“ — einem
              mit unverzeihlicher Gutmüthigkeit bisher behandelten Begriff —
              beikommen wird. Die Falschheit mit gutem Gewissen; die Lust an der
              Verstellung als Macht herausbrechend, den sogenannten „Charakter“
              bei Seite schiebend, überfluthend, mitunter auslöschend; das
              innere Verlangen in eine Rolle und Maske, in einen   Schein  hinein; ein Ueberschuss von
              Anpassungs-Fähigkeiten aller Art, welche sich nicht mehr im
              Dienste des nächsten engsten Nutzens zu befriedigen wissen: Alles
              das ist vielleicht nicht   nur 
              der Schauspieler an sich?… Ein solcher Instinkt wird sich am
              leichtesten bei Familien des niederen Volkes ausgebildet haben,
              die unter wechselndem Druck und Zwang, in tiefer Abhängigkeit ihr
              Leben durchsetzen mussten, welche sich geschmeidig nach ihrer
              Decke zu strecken, auf neue Umstände immer neu einzurichten, immer
              wieder anders zu geben und zu stellen hatten, befähigt allmählich,
              den Mantel nach   jedem 
              Winde zu hängen und dadurch fast zum Mantel werdend, als Meister
              jener einverleibten und eingefleischten Kunst des ewigen
              Verstecken-Spielens, das man bei Thieren mimicry nennt: bis zum
              Schluss dieses ganze von Geschlecht zu Geschlecht aufgespeicherte
              Vermögen herrisch, unvernünftig, unbändig wird, als Instinkt andre
              Instinkte kommandiren lernt und den Schauspieler, den „Künstler“
              erzeugt (den Possenreisser, Lügenerzähler, Hanswurst, Narren,
              Clown zunächst, auch den classischen Bedienten, den Gil Blas: denn
              in solchen Typen hat man die Vorgeschichte des Künstlers und oft
              genug sogar des „Genies“). Auch in höheren gesellschaftlichen
              Bedingungen erwächst unter ähnlichem Drucke eine ähnliche Art
              Mensch: nur wird dann meistens der schauspielerische Instinkt
              durch einen andren Instinkt gerade noch im Zaume gehalten, zum
              Beispiel bei dem „Diplomaten“, — ich würde übrigens glauben, dass
              es einem guten Diplomaten jeder Zeit noch freistünde, auch einen
              guten Bühnen-Schauspieler abzugeben, gesetzt, dass es ihm eben
              „freistünde“. Was aber die   Juden 
              betrifft, jenes Volk der Anpassungskunst par excellence, so möchte
              man in ihnen, diesem Gedankengange nach, von vornherein gleichsam
              eine welthistorische Veranstaltung zur Züchtung von Schauspielern
              sehn, eine eigentliche Schauspieler-Brutstätte; und in der That
              ist die Frage reichlich an der Zeit: welcher gute Schauspieler ist
              heute   nicht  — Jude?
              Auch der Jude als geborener Litterat, als der thatsächliche
              Beherrscher der europäischen Presse übt diese seine Macht auf
              Grund seiner schauspielerischen Fähigkeit aus: denn der Litterat
              ist wesentlich Schauspieler, — er spielt nämlich den
              „Sachkundigen“, den „Fachmann“. — Endlich die   Frauen :
              man denke über die ganze Geschichte der Frauen nach, —   müssen  sie nicht zu allererst und
              -oberst Schauspielerinnen sein? Man höre die Aerzte, welche
              Frauenzimmer hypnotisirt haben; zuletzt, man liebe sie, — man
              lasse sich von ihnen „hypnotisiren“! Was kommt immer dabei heraus?
              Dass sie „sich geben“, selbst noch, wenn sie — sich geben. … Das
              Weib ist so artistisch… 
           
          362. 
          Unser Glaube an eine Vermännlichung Europa’s .
              — Napoleon verdankt man’s (und ganz und gar nicht der
              französischen Revolution, welche auf „Brüderlichkeit“ von Volk zu
              Volk und allgemeinen blumichten Herzens-Austausch ausgewesen ist),
              dass sich jetzt ein paar kriegerische Jahrhunderte auf einander
              folgen dürfen, die in der Geschichte nicht ihres Gleichen haben,
              kurz dass wir in’s   klassische
              Zeitalter des Kriegs  getreten sind, des gelehrten und
              zugleich volksthümlichen Kriegs im grössten Maassstabe (der
              Mittel, der Begabungen, der Disciplin), auf den alle kommenden
              Jahrtausende als auf ein Stück Vollkommenheit mit Neid und
              Ehrfurcht zurückblicken werden: — denn die nationale Bewegung, aus
              der diese Kriegs-Glorie herauswächst, ist nur der Gegen-choc gegen
              Napoleon und wäre ohne Napoleon nicht vorhanden. Ihm also wird man
              einmal es zurechnen dürfen, dass der   Mann 
              in Europa wieder Herr über den Kaufmann und Philister geworden
              ist; vielleicht sogar über „das Weib“, das durch das Christenthum
              und den schwärmerischen Geist des achtzehnten Jahrhunderts, noch
              mehr durch die „modernen Ideen“, verhätschelt worden ist.
              Napoleon, der in den modernen Ideen und geradewegs in der
              Civilisation Etwas wie eine persönliche Feindin sah, hat mit
              dieser Feindschaft sich als einer der grössten Fortsetzer der
              Renaissance bewährt: er hat ein ganzes Stück antiken Wesens, das
              entscheidende vielleicht, das Stück Granit, wieder heraufgebracht.
              Und wer weiss, ob nicht dies Stück antiken Wesens auch endlich
              wieder über die nationale Bewegung Herr werden wird und sich im  
            bejahenden  Sinne zum Erben und
              Fortsetzer Napoleon’s machen muss: — der das Eine Europa wollte,
              wie man weiss, und dies als   Herrin
              der Erde . — 
           
          363. 
          Wie jedes Geschlecht über die Liebe sein
              Vorurtheil hat . — Bei allem Zugeständnisse, welches
              ich dem monogamischen Vorurtheile zu machen Willens bin, werde ich
              doch niemals zulassen, dass man bei Mann und Weib von   gleichen  Rechten in der Liebe rede:
              diese giebt es nicht. Das macht, Mann und Weib verstehen unter
              Liebe Jeder etwas Anderes, — und es gehört mit unter die
              Bedingungen der Liebe bei beiden Geschlechtern, dass das eine
              Geschlecht beim andren Geschlechte   nicht 
              das gleiche Gefühl, den gleichen Begriff „Liebe“ voraussetzt. Was
              das Weib unter Liebe versteht, ist klar genug: vollkommene Hingabe
              (nicht nur Hingebung) mit Seele und Leib, ohne jede Rücksicht,
              jeden Vorbehalt, mit Scham und Schrecken vielmehr vor dem Gedanken
              einer verklausulirten, an Bedingungen geknüpften Hingabe. In
              dieser Abwesenheit von Bedingungen ist eben seine Liebe ein  
            Glaube : das Weib hat keinen
              anderen. — Der Mann, wenn er ein Weib liebt,   will 
              von ihm eben diese Liebe, ist folglich für seine Person selbst am
              entferntesten von der Voraussetzung der weiblichen Liebe; gesetzt
              aber, dass es auch Männer geben sollte, denen ihrerseits das
              Verlangen nach vollkommener Hingebung nicht fremd ist, nun, so
              sind das eben — keine Männer. Ein Mann, der liebt wie ein Weib,
              wird damit Sklave; ein Weib aber, das liebt wie ein Weib, wird
              damit ein   vollkommeneres 
              Weib… Die Leidenschaft des Weibes, in ihrem unbedingten
              Verzichtleisten auf eigne Rechte, hat gerade zur Voraussetzung,
              dass auf der andren Seite   nicht 
              ein gleiches Pathos, ein gleiches Verzichtleisten-Wollen besteht:
              denn wenn Beide aus Liebe auf sich selbst verzichteten, so
              entstünde daraus — nun, ich weiss nicht was, vielleicht ein leerer
              Raum? — Das Weib will genommen, angenommen werden als Besitz, will
              aufgehn in den Begriff „Besitz“, „besessen“; folglich will es
              Einen, der   nimmt , der
              sich nicht selbst giebt und weggiebt, der umgekehrt vielmehr
              gerade reicher an „sich“ gemacht werden soll — durch den Zuwachs
              an Kraft, Glück, Glaube, als welchen ihm das Weib sich selbst
              giebt. Das Weib giebt sich weg, der Mann nimmt hinzu — ich denke,
              über diesen Natur-Gegensatz wird man durch keine socialen
              Verträge, auch nicht durch den allerbesten Willen zur
              Gerechtigkeit hinwegkommen: so wünschenswerth es sein mag, dass
              man das Harte, Schreckliche, Räthselhafte, Unmoralische dieses
              Antagonismus sich nicht beständig vor Augen stellt. Denn die
              Liebe, ganz, gross, voll gedacht, ist Natur und als Natur in alle
              Ewigkeit etwas „Unmoralisches“. — Die   Treue 
              ist demgemäss in die Liebe des Weibes eingeschlossen, sie folgt
              aus deren Definition; bei dem Manne   kann 
              sie leicht im Gefolge seiner Liebe entstehn, etwa als Dankbarkeit
              oder als Idiosynkrasie des Geschmacks und sogenannte
              Wahlverwandtschaft, aber sie gehört nicht in’s   Wesen 
              seiner Liebe, — und zwar so wenig, dass man beinahe mit einigem
              Recht von einem natürlichen Widerspiel zwischen Liebe und Treue
              beim Mann reden dürfte: welche Liebe eben ein Haben-Wollen ist und
              nicht  ein Verzichtleisten
              und Weggeben; das Haben-Wollen geht aber jedes Mal mit dem  
            Haben  zu Ende… Thatsächlich ist es
              der feinere und argwöhnerischere Besitzdurst des Mannes, der dies
              „Haben“ sich selten und spät eingesteht, was seine Liebe
              fortbestehn macht; insofern ist es selbst möglich, dass sie noch
              nach der Hingebung wächst, — er giebt nicht leicht zu, dass ein
              Weib für ihn Nichts mehr „hinzugeben“ hätte. — 
           
          364. 
          Der Einsiedler redet . — Die Kunst,
              mit Menschen umzugehn, beruht wesentlich auf der Geschicklichkeit
              (die eine lange Uebung voraussetzt), eine Mahlzeit anzunehmen,
              einzunehmen, zu deren Küche man kein Vertrauen hat. Gesetzt, dass
              man mit einem Wolfshunger zu Tisch kommt, geht Alles leicht („die
              schlechteste Gesellschaft lässt dich   fühlen 
              —“, wie Mephistopheles sagt); aber man hat ihn nicht, diesen
              Wolfshunger, wenn man ihn braucht! Ah, wie schwer sind die
              Mitmenschen zu verdauen! Erstes Princip: wie bei einem Unglücke
              seinen Muth einsetzen, tapfer zugreifen, sich selbst dabei
              bewundern, seinen Widerwillen zwischen die Zähne nehmen, seinen
              Ekel hinunter stopfen. Zweites Princip: seinen Mitmenschen
              „verbessern“, zum Beispiel durch ein Lob, so dass er sein Glück
              über sich selbst auszuschwitzen beginnt; oder einen Zipfel von
              seinen guten oder „interessanten“ Eigenschaften fassen und daran
              ziehn, bis man die ganze Tugend heraus hat und den Mitmenschen in
              deren Falten unterstecken kann. Drittes Princip:
              Selbsthypnotisirung. Sein Verkehrs-Objekt wie einen gläsernen
              Knopf fixiren, bis man aufhört, Lust und Unlust dabei zu
              empfinden, und unbemerkt einschläft, starr wird, Haltung bekommt:
              ein Hausmittel aus der Ehe und Freundschaft, reichlich erprobt,
              als unentbehrlich gepriesen, aber wissenschaftlich noch nicht
              formulirt. Sein populärer Name ist — Geduld. — 
           
          365. 
          Der Einsiedler spricht noch einmal .
              — Auch wir gehn mit „Menschen“ um, auch wir ziehn bescheiden das
              Kleid an, in dem ( als  das)
              man uns kennt, achtet, sucht, und begeben uns damit in
              Gesellschaft, das heisst unter Verkleidete, die es nicht heissen
              wollen; auch wir machen es wie alle klugen Masken und setzen jeder
              Neugierde, die nicht unser „Kleid“ betrifft, auf eine höfliche
              Weise den Stuhl vor die Thüre. Es giebt aber auch andre Arten und
              Kunststücke, um unter Menschen, mit Menschen „umzugehn“: zum
              Beispiel als Gespenst, — was sehr rathsam ist, wenn man sie bald
              los sein und fürchten machen will. Probe: man greift nach uns und
              bekommt uns nicht zu fassen. Das erschreckt. Oder: wir kommen
              durch eine geschlossne Thür. Oder: wenn alle Lichter ausgelöscht
              sind. Oder: nachdem wir bereits gestorben sind. Letzteres ist das
              Kunststück der   posthumen 
              Menschen par excellence. („Was denkt ihr auch?“ sagte ein Solcher
              einmal ungeduldig, „würden wir diese Fremde, Kälte, Grabesstille
              um uns auszuhalten Lust haben, diese ganze unterirdische verborgne
              stumme unentdeckte Einsamkeit, die bei uns Leben heisst und
              ebensogut Tod heissen könnte, wenn wir nicht wüssten, was aus uns
              wird , — und dass wir nach
              dem Tode erst zu   unserm 
              Leben kommen und lebendig werden, ah! sehr lebendig! wir posthumen
              Menschen!“ —) 
           
          366. 
          Angesichts eines gelehrten Buches .
              — Wir gehören nicht zu Denen, die erst zwischen Büchern, auf den
              Anstoss von Büchern zu Gedanken kommen — unsre Gewohnheit ist, im
              Freien zu denken, gehend, springend, steigend, tanzend, am
              liebsten auf einsamen Bergen oder dicht am Meere, da wo selbst die
              Wege nachdenklich werden. Unsre ersten Werthfragen, in Bezug auf
              Buch, Mensch und Musik, lauten: „kann er gehen? mehr noch, kann er
              tanzen?“… Wir lesen selten, wir lesen darum nicht schlechter — oh
              wie rasch errathen wir’s, wie Einer auf seine Gedanken gekommen
              ist, ob sitzend, vor dem Tintenfass, mit zusammengedrücktem
              Bauche, den Kopf über das Papier gebeugt: oh wie rasch sind wir
              auch mit seinem Buche fertig! Das geklemmte Eingeweide verräth
              sich, darauf darf man wetten, ebenso wie sich Stubenluft,
              Stubendecke, Stubenenge verräth. — Das waren meine Gefühle, als
              ich eben ein rechtschaffnes gelehrtes Buch zuschlug, dankbar, sehr
              dankbar, aber auch erleichtert… An dem Buche eines Gelehrten ist
              fast immer auch etwas Drückendes, Gedrücktes: der „Specialist“
              kommt irgendwo zum Vorschein, sein Eifer, sein Ernst, sein
              Ingrimm, seine Ueberschätzung des Winkels, in dem er sitzt und
              spinnt, sein Buckel, — jeder Specialist hat seinen Buckel. Ein
              Gelehrten-Buch spiegelt immer auch eine krummgezogene Seele: jedes
              Handwerk zieht krumm. Man sehe seine Freunde wieder, mit denen man
              jung war, nachdem sie Besitz von ihrer Wissenschaft ergriffen
              haben: ach, wie auch immer das Umgekehrte geschehn ist! Ach, wie
              sie selbst auf immer nunmehr von ihr besetzt und besessen sind! In
              ihre Ecke eingewachsen, verdrückt bis zur Unkenntlichkeit, unfrei,
              um ihr Gleichgewicht gebracht, abgemagert und eckig überall, nur
              an Einer Stelle ausbündig rund, — man ist bewegt und schweigt,
              wenn man sie so wiederfindet. Jedes Handwerk, gesetzt selbst, dass
              es einen goldenen Boden hat, hat über sich auch eine bleierne
              Decke, die auf die Seele drückt und drückt, bis sie wunderlich und
              krumm gedrückt ist. Daran ist Nichts zu ändern. Man glaube ja
              nicht, dass es möglich sei, um diese Verunstaltung durch irgend
              welche Künste der Erziehung herumzukommen. Jede Art   Meisterschaft  zahlt sich theuer auf
              Erden, wo vielleicht Alles sich zu theuer zahlt, man ist Mann
              seines Fachs um den Preis, auch das Opfer seines Fachs zu sein.
              Aber ihr wollt es anders haben — „billiger“, vor Allem bequemer —
              nicht wahr, meine Herren Zeitgenossen? Nun wohlan! Aber da bekommt
              ihr sofort auch etwas Anderes, nämlich statt des Handwerkers und
              Meisters den Litteraten, den gewandten „vielgewendeten“
              Litteraten, dem freilich der Buckel fehlt — jenen abgerechnet, den
              er vor euch macht, als der Ladendiener des Geistes und „Träger“
              der Bildung —, den Litteraten, der eigentlich Nichts   ist , aber fast Alles „repräsentirt“,
              der den Sachkenner spielt und „vertritt“, der es auch in aller
              Bescheidenheit auf sich nimmt, sich an dessen Stelle bezahlt,
              geehrt, gefeiert zu   machen .
              — Nein, meine gelehrten Freunde! Ich segne euch auch noch um eures
              Buckels willen! Und dafür, dass ihr gleich mir die Litteraten und
              Bildungs-Schmarotzer verachtet! Und dass ihr nicht mit dem Geiste
              Handel zu treiben wisst! Und lauter Meinungen habt, die nicht in
              Geldeswerth auszudrücken sind! Und dass ihr Nichts vertretet, was
              ihr nicht   seid ! Dass
              euer einziger Wille ist, Meister eures Handwerks zu werden, in
              Ehrfurcht vor jeder Art Meisterschaft und Tüchtigkeit und mit
              rücksichtslosester Ablehnung alles Scheinbaren, Halbächten,
              Aufgeputzten, Virtuosenhaften, Demagogischen, Schauspielerischen
              in litteris et artibus — alles Dessen, was in Hinsicht auf
              unbedingte   Probität  von
              Zucht und Vorschulung sich nicht vor euch ausweisen kann! (Selbst
              Genie hilft über einen solchen Mangel nicht hinweg, so sehr es
              auch über ihn hinwegzutäuschen versteht: das begreift man, wenn
              man einmal unsern begabtesten Malern und Musikern aus der Nähe
              zugesehn hat, — als welche Alle, fast ausnahmslos, sich durch eine
              listige Erfindsamkeit von Manieren, von Nothbehelfen, selbst von
              Principien künstlich und nachträglich den   Anschein 
              jener Probität, jener Solidität von Schulung und Cultur anzueignen
              wissen, freilich ohne damit sich selbst zu betrügen, ohne damit
              ihr eignes schlechtes Gewissen dauernd mundtodt zu machen. Denn,
              ihr wisst es doch? alle grossen modernen Künstler leiden am
              schlechten Gewissen…) 
           
          367. 
          Wie man zuerst bei Kunstwerken zu unterscheiden
              hat . — Alles, was gedacht, gedichtet, gemalt,
              componirt, selbst gebaut und gebildet wird, gehört entweder zur
              monologischen Kunst oder zur Kunst vor Zeugen. Unter letztere ist
              auch noch jene scheinbare Monolog-Kunst einzurechnen, welche den
              Glauben an Gott in sich schliesst, die ganze Lyrik des Gebets:
              denn für einen Frommen giebt es noch keine Einsamkeit, — diese
              Erfindung haben erst wir gemacht, wir Gottlosen. Ich kenne keinen
              tieferen Unterschied der gesammten Optik eines Künstlers als
              diesen: ob er vom Auge des Zeugen aus nach seinem werdenden
              Kunstwerke (nach „sich“ — ) hinblickt oder aber „die Welt
              vergessen hat“: wie es das Wesentliche jeder monologischen Kunst
              ist, — sie ruht   auf dem Vergessen ,
              sie ist die Musik des Vergessens. 
           
          368. 
          Der Cyniker redet . — Meine
              Einwände gegen die Musik Wagner’s sind physiologische Einwände:
              wozu dieselben erst noch unter ästhetische Formeln verkleiden?
              Meine „Thatsache“ ist, dass ich nicht mehr leicht athme, wenn
              diese Musik erst auf mich wirkt; dass alsbald mein   Fuss  gegen sie böse wird und revoltirt
              — er hat das Bedürfniss nach Takt, Tanz, Marsch, er verlangt von
              der Musik vorerst die Entzückungen, welche in   gutem 
              Gehen, Schreiten, Springen, Tanzen liegen. — Protestirt aber nicht
              auch mein Magen? mein Herz? mein Blutlauf? mein Eingeweide? Werde
              ich nicht unvermerkt heiser dabei? — Und so frage ich mich: was  
            will  eigentlich mein ganzer Leib
              von der Musik überhaupt? Ich glaube, seine   Erleichterung :
              wie als ob alle animalischen Funktionen durch leichte kühne
              ausgelassne selbstgewisse Rhythmen beschleunigt werden sollten;
              wie als ob das eherne, das bleierne Leben durch goldene gute
              zärtliche Harmonien vergoldet werden sollte. Meine Schwermuth will
              in den Verstecken und Abgründen der   Vollkommenheit 
              ausruhn: dazu brauche ich Musik. Was geht mich das Drama an! Was
              die Krämpfe seiner sittlichen Ekstasen, an denen das „Volk“ seine
              Genugthuung hat! Was der ganze Gebärden-Hokuspokus des
              Schauspielers!… Man erräth, ich bin wesentlich antitheatralisch
              geartet, — aber Wagner war umgekehrt wesentlich Theatermensch und
              Schauspieler, der begeistertste Mimomane, den es gegeben hat, auch
              noch als Musiker!… Und, beiläufig gesagt: wenn es Wagner’s Theorie
              gewesen ist „das Drama ist der Zweck, die Musik ist immer nur
              dessen Mittel“, — seine   Praxis 
              dagegen war, von Anfang bis zu Ende, „die Attitüde ist der Zweck,
              das Drama, auch die Musik ist immer nur   ihr 
              Mittel“. Die Musik als Mittel zur Verdeutlichung, Verstärkung,
              Verinnerlichung der dramatischen Gebärde und
              Schauspieler-Sinnenfälligkeit; und das Wagnerische Drama nur eine
              Gelegenheit zu vielen dramatischen Attitüden! Er hatte, neben
              allen anderen Instinkten, die commandirenden Instinkte eines
              grossen Schauspielers, in Allem und Jedem: und, wie gesagt, auch
              als Musiker. — Dies machte ich einstmals einem rechtschaffenen
              Wagnerianer klar, mit einiger Mühe; und ich hatte Gründe, noch
              hinzuzufügen „seien Sie doch ein wenig ehrlicher gegen sich
              selbst: wir sind ja nicht im Theater! Im Theater ist man nur als
              Masse ehrlich; als Einzelner lügt man, belügt man sich. Man lässt
              sich selbst zu Hause, wenn man in’s Theater geht, man verzichtet
              auf das Recht der eignen Zunge und Wahl, auf seinen Geschmack,
              selbst auf seine Tapferkeit, wie man sie zwischen den eignen vier
              Wänden gegen Gott und Mensch hat und übt. In das Theater bringt
              Niemand die feinsten Sinne seiner Kunst mit, auch der Künstler
              nicht, der für das Theater arbeitet: da ist man Volk, Publikum,
              Heerde, Weib, Pharisäer, Stimmvieh, Demokrat, Nächster, Mitmensch,
              da unterliegt noch das persönlichste Gewissen dem nivellirenden
              Zauber der „grössten Zahl“, da wirkt die Dummheit als Lüsternheit
              und Contagion, da regiert der „Nachbar“, da   wird 
              man Nachbar…“ (Ich vergass zu erzählen, was mir mein aufgeklärter
              Wagnerianer auf die physiologischen Einwände entgegnete: „Sie sind
              also eigentlich nur nicht gesund genug für unsere Musik?“ —) 
           
          369. 
          Unser Nebeneinander . — Müssen wir
              es uns nicht eingestehn, wir Künstler, dass es eine unheimliche
              Verschiedenheit in uns giebt, dass unser Geschmack und andrerseits
              unsre schöpferische Kraft auf eine wunderliche Weise für sich
              stehn, für sich stehn bleiben und ein Wachsthum für sich haben, —
              ich will sagen ganz verschiedne Grade und tempi von Alt, Jung,
              Reif, Mürbe, Faul? So dass zum Beispiel ein Musiker zeitlebens
              Dinge schaffen könnte, die dem, was sein verwöhntes Zuhörer-Ohr,
              Zuhörer-Herz schätzt, schmeckt, vorzieht,   widersprechen :
              — er brauchte noch nicht einmal um diesen Widerspruch zu wissen!
              Man kann, wie eine fast peinlich-regelmässige Erfahrung zeigt,
              leicht mit seinem Geschmack über den Geschmack seiner Kraft
              hinauswachsen, selbst ohne dass letztere dadurch gelähmt und am
              Hervorbringen gehindert würde; es kann aber auch etwas Umgekehrtes
              geschehn, — und dies gerade ist es, worauf ich die Aufmerksamkeit
              der Künstler lenken möchte. Ein Beständig-Schaffender, eine
              „Mutter“ von Mensch, im grossen Sinne des Wortes, ein Solcher, der
              von Nichts als von Schwangerschaften und Kindsbetten seines
              Geistes mehr weiss und hört, der gar keine Zeit hat, sich und sein
              Werk zu bedenken, zu vergleichen, der auch nicht mehr Willens ist,
              seinen Geschmack noch zu üben, und ihn einfach vergisst, nämlich
              stehn, liegen oder fallen lässt, — vielleicht bringt ein Solcher
              endlich Werke hervor,   denen er mit
              seinem Urtheile längst nicht mehr gewachsen ist : so
              dass er über sie und sich Dummheiten sagt, — sagt und denkt. Dies
              scheint mir bei fruchtbaren Künstlern beinahe das normale
              Verhältniss, — Niemand kennt ein Kind schlechter als seine Eltern
              — und es gilt sogar, um ein ungeheueres Beispiel zu nehmen, in
              Bezug auf die ganze griechische Dichter- und Künstler-Welt: sie
              hat niemals „gewusst“, was sie gethan hat… 
           
          370. 
          Was ist Romantik?  — Man erinnert
              sich vielleicht, zum Mindesten unter meinen Freunden, dass ich
              Anfangs mit einigen dicken Irrthümern und Ueberschätzungen und
              jedenfalls als   Hoffender 
              auf diese moderne Welt losgegangen bin. Ich verstand — wer weiss,
              auf welche persönlichen Erfahrungen hin? — den philosophischen
              Pessimismus des neunzehnten Jahrhunderts, wie als ob er das
              Symptom von höherer Kraft des Gedankens, von verwegenerer
              Tapferkeit, von siegreicherer   Fülle 
              des Lebens sei, als diese dem achtzehnten Jahrhundert, dem
              Zeitalter Hume’s, Kant’s, Condillac’s und der Sensualisten, zu
              eigen gewesen sind: so dass mir die tragische Erkenntniss wie der
              eigentliche   Luxus 
              unsrer Cultur erschien, als deren kostbarste, vornehmste,
              gefährlichste Art Verschwendung, aber immerhin, auf Grund ihres
              Ueberreichthums, als ihr   erlaubter 
              Luxus. Insgleichen deutete ich mir die deutsche Musik zurecht zum
              Ausdruck einer dionysischen Mächtigkeit der deutschen Seele: in
              ihr glaubte ich das Erdbeben zu hören, mit dem eine von Alters her
              aufgestaute Urkraft sich endlich Luft macht — gleichgültig
              dagegen, ob Alles, was sonst Cultur heisst, dabei in’s Zittern
              geräth. Man sieht, ich verkannte damals, sowohl am philosophischen
              Pessimismus, wie an der deutschen Musik, das was ihren
              eigentlichen Charakter ausmacht — ihre   Romantik .
              Was ist Romantik? Jede Kunst, jede Philosophie darf als Heil- und
              Hülfsmittel im Dienste des wachsenden, kämpfenden Lebens angesehn
              werden: sie setzen immer Leiden und Leidende voraus. Aber es giebt
              zweierlei Leidende, einmal die an der   Ueberfülle
              des Lebens  Leidenden, welche eine dionysische Kunst
              wollen und ebenso eine tragische Ansicht und Einsicht in das
              Leben, — und sodann die an der   Verarmung
              des Lebens  Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer,
              Erlösung von sich durch die Kunst und Erkenntniss suchen, oder
              aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung, den Wahnsinn. Dem
              Doppel-Bedürfnisse der   Letzteren 
              entspricht alle Romantik in Künsten und Erkenntnissen, ihnen
              entsprach (und entspricht) ebenso Schopenhauer als Richard Wagner,
              um jene berühmtesten und ausdrücklichsten Romantiker zu nennen,
              welche damals von mir   missverstanden 
              wurden — übrigens   nicht 
              zu ihrem Nachtheile, wie man mir in aller Billigkeit zugestehn
              darf. Der Reichste an Lebensfülle, der dionysische Gott und
              Mensch, kann sich nicht nur den Anblick des Fürchterlichen und
              Fragwürdigen gönnen, sondern selbst die fürchterliche That und
              jeden Luxus von Zerstörung, Zersetzung, Verneinung; bei ihm
              erscheint das Böse, Unsinnige und Hässliche gleichsam erlaubt, in
              Folge eines Ueberschusses von zeugenden, befruchtenden Kräften,
              welcher aus jeder Wüste noch ein üppiges Fruchtland zu schaffen im
              Stande ist. Umgekehrt würde der Leidendste, Lebensärmste am
              meisten die Milde, Friedlichkeit, Güte nöthig haben, im Denken und
              im Handeln, womöglich einen Gott, der ganz eigentlich ein Gott für
              Kranke, ein „Heiland“ wäre; ebenso auch die Logik, die
              begriffliche Verständlichkeit des Daseins — denn die Logik
              beruhigt, giebt Vertrauen —, kurz eine gewisse warme
              furchtabwehrende Enge und Einschliessung in optimistische
              Horizonte. Dergestalt lernte ich allmählich Epikur begreifen, den
              Gegensatz eines dionysischen Pessimisten, ebenfalls den
              „Christen“, der in der That nur eine Art Epikureer und, gleich
              jenem, wesentlich Romantiker ist, — und mein Blick schärfte sich
              immer mehr für jene schwierigste und verfänglichste Form des  
            Rückschlusses , in der die meisten
              Fehler gemacht werden — des Rückschlusses vom Werk auf den
              Urheber, von der That auf den Thäter, vom Ideal auf Den, der es  
            nöthig hat , von jeder Denk- und
              Werthungsweise auf das dahinter kommandirende   Bedürfniss .
              — In Hinsicht auf alle ästhetischen Werthe bediene ich mich jetzt
              dieser Hauptunterscheidung: ich frage, in jedem einzelnen Falle,
              „ist hier der Hunger oder der Ueberfluss schöpferisch geworden?“
              Von vornherein möchte sich eine andre Unterscheidung mehr zu
              empfehlen scheinen — sie ist bei weitem augenscheinlicher —
              nämlich das Augenmerk darauf, ob das Verlangen nach Starrmachen,
              Verewigen, nach   Sein 
              die Ursache des Schaffens ist, oder aber das Verlangen nach
              Zerstörung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach  
            Werden . Aber beide Arten des
              Verlangens erweisen sich, tiefer angesehn, noch als zweideutig,
              und zwar deutbar eben nach jenem vorangestellten und mit Recht,
              wie mich dünkt, vorgezogenen Schema. Das Verlangen nach   Zerstörung , Wechsel, Werden kann der
              Ausdruck der übervollen, zukunftsschwangeren Kraft sein (mein
              terminus ist dafür, wie man weiss, das Wort „dionysisch“), aber es
              kann auch der Hass des Missrathenen, Entbehrenden,
              Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören   muss , weil ihn das Bestehende, ja alles
              Bestehn, alles Sein selbst empört und aufreizt — man sehe sich, um
              diesen Affekt zu verstehn, unsre Anarchisten aus der Nähe an. Der
              Wille zum   Verewigen 
              bedarf gleichfalls einer zwiefachen Interpretation. Er kann einmal
              aus Dankbarkeit und Liebe kommen: — eine Kunst dieses Ursprungs
              wird immer eine Apotheosenkunst sein, dithyrambisch vielleicht mit
              Rubens, selig-spöttisch mit Hafis, hell und gütig mit Goethe, und
              einen homerischen Licht- und Glorienschein über alle Dinge
              breitend. Er kann aber auch jener tyrannische Wille eines
              Schwerleidenden, Kämpfenden, Torturirten sein, welcher das
              Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie
              seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln
              möchte und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt, dadurch,
              dass er ihnen   sein 
              Bild, das Bild   seiner 
              Tortur, aufdrückt, einzwängt, einbrennt. Letzteres ist der  
            romantische Pessimismus  in seiner
              ausdrucksvollsten Form, sei es als Schopenhauer’sche
              Willens-Philosophie, sei es als Wagner’sche Musik: — der
              romantische Pessimismus, das letzte   grosse 
              Ereigniss im Schicksal unsrer Cultur. (Dass es noch einen ganz
              anderen Pessimismus geben   könne ,
              einen klassischen — diese Ahnung und Vision gehört zu mir, als
              unablöslich von mir, als mein proprium und ipsissimum: nur dass
              meinen Ohren das Wort „klassisch“ widersteht, es ist bei weitem zu
              abgebraucht, zu rund und unkenntlich geworden. Ich nenne jenen
              Pessimismus der Zukunft — denn er kommt! ich sehe ihn kommen! —
              den   dionysischen 
              Pessimismus.) 
           
          371. 
          Wir Unverständlichen . — Haben wir
              uns je darüber beklagt, missverstanden, verkannt, verwechselt,
              verleumdet, verhört und überhört zu werden? Eben das ist unser
              Loos — oh für lange noch! sagen wir, um bescheiden zu sein, bis
              1901 —, es ist auch unsre Auszeichnung; wir würden uns selbst
              nicht genug in Ehren halten, wenn wir’s anders wünschten. Man
              verwechselt uns — das macht, wir selbst wachsen, wir wechseln
              fortwährend, wir stossen alte Rinden ab, wir häuten uns mit jedem
              Frühjahre noch, wir werden immer jünger, zukünftiger, höher,
              stärker, wir treiben unsre Wurzeln immer mächtiger in die Tiefe —
              in’s Böse —, während wir zugleich den Himmel immer liebevoller,
              immer breiter umarmen und sein Licht immer durstiger mit allen
              unsren Zweigen und Blättern in uns hineinsaugen. Wir wachsen wie
              Bäume — das ist schwer zu verstehn, wie alles Leben! — nicht an
              Einer Stelle, sondern überall, nicht in Einer Richtung, sondern
              ebenso hinauf, hinaus wie hinein und hinunter, — unsre Kraft
              treibt zugleich in Stamm, Aesten und Wurzeln, es steht uns gar
              nicht mehr frei, irgend Etwas einzeln zu thun, irgend etwas
              Einzelnes noch zu   sein …
              So ist es unser Loos, wie gesagt: wir wachsen in die   Höhe ; und gesetzt, es wäre selbst unser
              Verhängniss — denn wir wohnen den Blitzen immer näher! — wohlan,
              wir halten es darum nicht weniger in Ehren, es bleibt Das, was wir
              nicht theilen, nicht mittheilen wollen, das Verhängniss der Höhe,
              unser  Verhängniss… 
           
          372. 
          Warum wir keine Idealisten sind . —
              Ehemals hatten die Philosophen Furcht vor den Sinnen: haben wir —
              diese Furcht vielleicht allzusehr verlernt? Wir sind heute
              allesammt Sensualisten, wir Gegenwärtigen und Zukünftigen in der
              Philosophie,   nicht  der
              Theorie nach, aber der Praxis, der Praktik… Jene hingegen meinten,
              durch die Sinne aus   ihrer 
              Welt, dem kalten Reiche der „Ideen“, auf ein gefährliches
              südlicheres Eiland weggelockt zu werden: woselbst, wie sie
              fürchteten, ihre Philosophen-Tugenden wie Schnee in der Sonne
              wegschmelzen würden. „Wachs in den Ohren“ war damals beinahe
              Bedingung des Philosophirens; ein ächter Philosoph hörte das Leben
              nicht mehr, insofern Leben Musik ist, er   leugnete 
              die Musik des Lebens, — es ist ein alter Philosophen-Aberglaube,
              dass alle Musik Sirenen-Musik ist. — Nun möchten wir heute geneigt
              sein, gerade umgekehrt zu urtheilen (was an sich noch eben so
              falsch sein könnte): nämlich dass die   Ideen 
              schlimmere Verführerinnen seien als die Sinne, mit allem ihrem
              kalten anämischen Anscheine und nicht einmal trotz diesem
              Anscheine, — sie lebten immer vom „Blute“ des Philosophen, sie
              zehrten immer seine Sinne aus, ja, wenn man uns glauben will, auch
              sein „Herz“. Diese alten Philosophen waren herzlos: Philosophiren
              war immer eine Art Vampyrismus. Fühlt ihr nicht an solchen
              Gestalten, wie noch der Spinoza’s, etwas tief Änigmatisches und
              Unheimliches? Seht ihr das Schauspiel nicht, das sich hier
              abspielt, das beständige   Blässer-werden 
              —, die immer idealischer ausgelegte Entsinnlichung? Ahnt ihr nicht
              im Hintergrunde irgend eine lange verborgene Blutaussaugerin,
              welche mit den Sinnen ihren Anfang macht und zuletzt Knochen und
              Geklapper übrig behält, übrig lässt? — ich meine Kategorien,
              Formeln,   Worte  (denn,
              man vergebe mir, das was von Spinoza   übrig
              blieb , amor intellectualis dei, ist ein Geklapper,
              nichts mehr! was ist amor, was deus, wenn ihnen jeder Tropfen Blut
              fehlt?…) In summa: aller philosophische Idealismus war bisher
              Etwas wie Krankheit, wo er nicht, wie im Falle Plato’s, die
              Vorsicht einer überreichen und gefährlichen Gesundheit, die Furcht
              vor   übermächtigen 
              Sinnen, die Klugheit eines klugen Sokratikers war. — Vielleicht
              sind wir Modernen nur nicht gesund genug, um Plato’s Idealismus  
            nöthig zu haben ? Und wir fürchten
              die Sinne nicht, weil — — 
           
          373. 
          „Wissenschaft“ als Vorurtheil . —
              Es folgt aus den Gesetzen der Rangordnung, dass Gelehrte, insofern
              sie dem geistigen Mittelstande zugehören, die eigentlichen  
            grossen  Probleme und Fragezeichen
              gar nicht in Sicht bekommen dürfen: zudem reicht ihr Muth und
              ebenso ihr Blick nicht bis dahin, — vor Allem, ihr Bedürfniss, das
              sie zu Forschern macht, ihr inneres Vorausnehmen und Wünschen, es
              möchte   so und so 
              beschaffen sein, ihr Fürchten und Hoffen kommt zu bald schon zur
              Ruhe, zur Befriedigung. Was zum Beispiel den pedantischen
              Engländer Herbert Spencer auf seine Weise schwärmen macht und
              einen Hoffnungs-Strich, eine Horizont-Linie der Wünschbarkeit
              ziehen heisst, jene endliche Versöhnung von „Egoismus und
              Altruismus“, von der er fabelt, das macht Unsereinem beinahe Ekel:
              — eine Menschheit mit solchen Spencer’schen Perspektiven als
              letzten Perspektiven schiene uns der Verachtung, der Vernichtung
              werth! Aber schon   dass 
              Etwas als höchste Hoffnung von ihm empfunden werden muss, was
              Anderen bloss als widerliche Möglichkeit gilt und gelten darf, ist
              ein Fragezeichen, welches Spencer nicht vorauszusehn vermocht
              hätte… Ebenso steht es mit jenem Glauben, mit dem sich jetzt so
              viele materialistische Naturforscher zufrieden geben, dem Glauben
              an eine Welt, welche im menschlichen Denken, in menschlichen
              Werthbegriffen ihr Äquivalent und Maass haben soll, an eine „Welt
              der Wahrheit“, der man mit Hülfe unsrer viereckigen kleinen
              Menschenvernunft letztgültig beizukommen vermöchte — wie? wollen
              wir uns wirklich dergestalt das Dasein zu einer
              Rechenknechts-Uebung und Stubenhockerei für Mathematiker
              herabwürdigen lassen? Man soll es vor Allem nicht seines  
            vieldeutigen  Charakters entkleiden
              wollen: das fordert der   gute 
              Geschmack, meine Herren, der Geschmack der Ehrfurcht vor Allem,
              was über euren Horizont geht! Dass allein eine Welt-Interpretation
              im Rechte sei, bei der   ihr 
              zu Rechte besteht, bei der wissenschaftlich in   eurem 
              Sinne (— ihr meint eigentlich   mechanistisch ?)
              geforscht und fortgearbeitet werden kann, eine solche, die Zählen,
              Rechnen, Wägen, Sehn und Greifen und nichts weiter zulässt, das
              ist eine Plumpheit und Naivetät, gesetzt, dass es keine
              Geisteskrankheit, kein Idiotismus ist. Wäre es umgekehrt nicht
              recht wahrscheinlich, dass sich gerade das Oberflächlichste und
              Aeusserlichste vom Dasein — sein Scheinbarstes, seine Haut und
              Versinnlichung — am Ersten fassen liesse? vielleicht sogar allein
              fassen liesse? Eine „wissenschaftliche“ Welt-Interpretation, wie
              ihr sie versteht, könnte folglich immer noch eine der   dümmsten , das heisst sinnärmsten aller
              möglichen Welt-Interpretationen sein: dies den Herrn Mechanikern
              in’s Ohr und Gewissen gesagt, die heute gern unter die Philosophen
              laufen und durchaus vermeinen, Mechanik sei die Lehre von den
              ersten und letzten Gesetzen, auf denen wie auf einem Grundstocke
              alles Dasein aufgebaut sein müsse. Aber eine essentiell
              mechanische Welt wäre eine essentiell   sinnlose 
              Welt! Gesetzt, man schätzte den   Werth 
              einer Musik darnach ab, wie viel von ihr gezählt, berechnet, in
              Formeln gebracht werden könne — wie absurd wäre eine solche
              „wissenschaftliche“ Abschätzung der Musik! Was hätte man von ihr
              begriffen, verstanden, erkannt! Nichts, geradezu Nichts von dem,
              was eigentlich an ihr „Musik“ ist!… 
           
          374. 
          Unser neues „Unendliches“ . — Wie
              weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob
              es irgend einen andren Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein
              ohne Auslegung, ohne „Sinn“ eben zum „Unsinn“ wird, ob,
              andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein   auslegendes 
              Dasein ist — das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und
              peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des
              Intellekts nicht ausgemacht werden: da der menschliche Intellekt
              bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen
              perspektivischen Formen zu sehn und   nur 
              in ihnen zu sehn. Wir können nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine
              hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch für andre
              Arten Intellekt und Perspektive geben   könnte :
              zum Beispiel, ob irgend welche Wesen die Zeit zurück oder
              abwechselnd vorwärts und rückwärts empfinden können (womit eine
              andre Richtung des Lebens und ein andrer Begriff von Ursache und
              Wirkung gegeben wäre). Aber ich denke, wir sind heute zum
              Mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrer
              Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus
              Perspektiven haben   dürfe .
              Die Welt ist uns vielmehr noch einmal „unendlich“ geworden:
              insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie  
            unendliche Interpretationen in sich schliesst .
              Noch einmal fasst uns der grosse Schauder — aber wer hätte wohl
              Lust,   dieses  Ungeheure
              von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu
              vergöttlichen? Und etwa   das 
              Unbekannte fürderhin als „ den 
              Unbekannten“ anzubeten? Ach, es sind zu viele   ungöttliche 
              Möglichkeiten der Interpretation mit in dieses Unbekannte
              eingerechnet, zu viel Teufelei, Dummheit, Narrheit der
              Interpretation, — unsre eigne menschliche, allzumenschliche
              selbst, die wir kennen… 
           
          375. 
          Warum wir Epikureer scheinen . —
              Wir sind vorsichtig, wir modernen Menschen, gegen letzte
              Ueberzeugungen; unser Misstrauen liegt auf der Lauer gegen die
              Bezauberungen und Gewissens-Ueberlistungen, welche in jedem
              starken Glauben, jedem unbedingten Ja und Nein liegen: wie erklärt
              sich das? Vielleicht, dass man darin zu einem guten Theil die
              Behutsamkeit des „gebrannten Kindes“, des enttäuschten Idealisten
              sehn darf, zu einem andern und bessern Theile aber auch die
              frohlockende Neugierde eines ehemaligen Eckenstehers, der durch
              seine Ecke in Verzweiflung gebracht worden ist und nunmehr im
              Gegensatz der Ecke schwelgt und schwärmt, im Unbegrenzten, im
              „Freien an sich“. Damit bildet sich ein nahezu epikurischer
              Erkenntniss-Hang aus, welcher den Fragezeichen-Charakter der Dinge
              nicht leichten Kaufs fahren lassen will; insgleichen ein
              Widerwille gegen die grossen Moral-Worte und -Gebärden, ein
              Geschmack, der alle plumpen vierschrötigen Gegensätze ablehnt und
              sich seiner Uebung in Vorbehalten mit Stolz bewusst ist. Denn  
            Das  macht unsern Stolz aus, dieses
              leichte Zügel-Straffziehn bei unsrem vorwärts stürmenden Drange
              nach Gewissheit, diese Selbstbeherrschung des Reiters auf seinen
              wildesten Ritten: nach wie vor nämlich haben wir tolle feurige
              Thiere unter uns, und wenn wir zögern, so ist es am wenigsten wohl
              die Gefahr, die uns zögern macht… 
           
          376. 
          Unsre langsamen Zeiten . — So
              empfinden alle Künstler und Menschen der „Werke“, die mütterliche
              Art Mensch: immer glauben sie, bei jedem Abschnitte ihres Lebens —
              den ein Werk jedes Mal abschneidet —, schon am Ziele selbst zu
              sein, immer würden sie den Tod geduldig entgegen nehmen, mit dem
              Gefühl: „dazu sind wir reif“. Dies ist nicht der Ausdruck der
              Ermüdung, — vielmehr der einer gewissen herbstlichen Sonnigkeit
              und Milde, welche jedes Mal das Werk selbst, das Reifgewordensein
              eines Werks, bei seinem Urheber hinterlässt. Da verlangsamt sich
              das tempo des Lebens und wird dick und honigflüssig — bis zu
              langen Fermaten, bis zum Glauben an   die 
              lange Fermate… 
           
          377. 
          Wir Heimatlosen . — Es fehlt unter
              den Europäern von Heute nicht an solchen, die ein Recht haben,
              sich in einem abhebenden und ehrenden Sinne Heimatlose zu nennen,
              ihnen gerade sei meine geheime Weisheit und gaya scienza
              ausdrücklich an’s Herz gelegt! Denn ihr Loos ist hart, ihre
              Hoffnung ungewiss, es ist ein Kunststück, ihnen einen Trost zu
              erfinden — aber was hilft es! Wir Kinder der Zukunft, wie  
            vermöchten  wir in diesem Heute zu
              Hause zu sein! Wir sind allen Idealen abgünstig, auf welche hin
              Einer sich sogar in dieser zerbrechlichen zerbrochnen
              Uebergangszeit noch heimisch fühlen könnte; was aber deren
              „Realitäten“ betrifft, so glauben wir nicht daran, dass sie  
            Dauer  haben. Das Eis, das heute
              noch trägt, ist schon sehr dünn geworden: der Thauwind weht, wir
              selbst, wir Heimatlosen, sind Etwas, das Eis und andre allzudünne
              „Realitäten“ aufbricht… Wir „conserviren“ Nichts, wir wollen auch
              in keine Vergangenheit zurück, wir sind durchaus nicht „liberal“,
              wir arbeiten nicht für den „Fortschritt“, wir brauchen unser Ohr
              nicht erst gegen die Zukunfts-Sirenen des Marktes zu verstopfen —
              das, was sie singen, „gleiche Rechte“, „freie Gesellschaft“,
              „keine Herrn mehr und keine Knechte“, das lockt uns nicht! — wir
              halten es schlechterdings nicht für wünschenswerth, dass das Reich
              der Gerechtigkeit und Eintracht auf Erden gegründet werde (weil es
              unter allen Umständen das Reich der tiefsten Vermittelmässigung
              und Chineserei sein würde), wir freuen uns an Allen, die gleich
              uns die Gefahr, den Krieg, das Abenteuer lieben, die sich nicht
              abfinden, einfangen, versöhnen und verschneiden lassen, wir
              rechnen uns selbst unter die Eroberer, wir denken über die
              Nothwendigkeit neuer Ordnungen nach, auch einer neuen Sklaverei —
              denn zu jeder Verstärkung und Erhöhung des Typus „Mensch“ gehört
              auch eine neue Art Versklavung hinzu — nicht wahr? mit Alle dem
              müssen wir schlecht in einem Zeitalter zu Hause sein, welches die
              Ehre in Anspruch zu nehmen liebt, das menschlichste, mildeste,
              rechtlichste Zeitalter zu heissen, das die Sonne bisher gesehen
              hat? Schlimm genug, dass wir gerade bei diesen schönen Worten um
              so hässlichere Hintergedanken haben! Dass wir darin nur den
              Ausdruck — auch die Maskerade — der tiefen Schwächung, der
              Ermüdung, des Alters, der absinkenden Kraft sehen! Was kann uns
              daran gelegen sein, mit was für Flittern ein Kranker seine
              Schwäche aufputzt! Mag er sie als seine   Tugend 
              zur Schau tragen — es unterliegt ja keinem Zweifel, dass die
              Schwäche mild, ach so mild, so rechtlich, so unoffensiv, so
              „menschlich“ macht! — Die „Religion des Mitleidens“, zu der man
              uns überreden möchte — oh wir kennen die hysterischen Männlein und
              Weiblein genug, welche heute gerade diese Religion zum Schleier
              und Aufputz nöthig haben! Wir sind keine Humanitarier; wir würden
              uns nie zu erlauben wagen, von unsrer „Liebe zur Menschheit“ zu
              reden — dazu ist Unsereins nicht Schauspieler genug! Oder nicht
              Saint-Simonist genug, nicht Franzose genug. Man muss schon mit
              einem   gallischen 
              Uebermaass erotischer Reizbarkeit und verliebter Ungeduld behaftet
              sein, um sich in ehrlicher Weise sogar noch der Menschheit mit
              seiner Brunst zu nähern… Der Menschheit! Gab es je noch ein
              scheusslicheres altes Weib unter allen alten Weibern? (— es müsste
              denn etwa „die Wahrheit“ sein: eine Frage für Philosophen). Nein,
              wir lieben die Menschheit nicht; andererseits sind wir aber auch
              lange nicht „deutsch“ genug, wie heute das Wort „deutsch“ gang und
              gäbe ist, um dem Nationalismus und dem Rassenhass das Wort zu
              reden, um an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung
              Freude haben zu können, derenthalben sich jetzt in Europa Volk
              gegen Volk wie mit Quarantänen abgrenzt, absperrt. Dazu sind wir
              zu unbefangen, zu boshaft, zu verwöhnt, auch zu gut unterrichtet,
              zu „gereist“: wir ziehen es bei Weitem vor, auf Bergen zu leben,
              abseits, „unzeitgemäss“, in vergangnen oder kommenden
              Jahrhunderten, nur damit wir uns die stille Wuth ersparen, zu der
              wir uns verurtheilt wüssten als Augenzeugen einer Politik, die den
              deutschen Geist öde macht, indem sie ihn eitel macht, und  
            kleine  Politik ausserdem ist: — hat
              sie nicht nöthig, damit ihre eigne Schöpfung nicht sofort wieder
              auseinanderfällt, sie zwischen zwei Todhasse zu pflanzen?  
            muss  sie nicht die Verewigung der
              Kleinstaaterei Europa’s wollen?… Wir Heimatlosen, wir sind der
              Rasse und Abkunft nach zu vielfach und gemischt, als „moderne
              Menschen“, und folglich wenig versucht, an jener verlognen
              Rassen-Selbstbewunderung und Unzucht theilzunehmen, welche sich
              heute in Deutschland als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau
              trägt und die bei dem Volke des „historischen Sinns“ zwiefach
              falsch und unanständig anmuthet. Wir sind, mit Einem Worte — und
              es soll unser Ehrenwort sein! —   gute
              Europäer , die Erben Europa’s, die reichen,
              überhäuften, aber auch überreich verpflichteten Erben von
              Jahrtausenden des europäischen Geistes: als solche auch dem
              Christenthum entwachsen und abhold, und gerade, weil wir  
            aus  ihm gewachsen sind, weil unsre
              Vorfahren Christen von rücksichtsloser Rechtschaffenheit des
              Christenthums waren, die ihrem Glauben willig Gut und Blut, Stand
              und Vaterland zum Opfer gebracht haben. Wir — thun desgleichen.
              Wofür doch? Für unsern Unglauben? Für jede Art Unglauben? Nein,
              das wisst ihr besser, meine Freunde! Das verborgne   Ja  in euch ist stärker als alle Neins
              und Vielleichts, an denen ihr mit eurer Zeit krank seid; und wenn
              ihr auf’s Meer müsst, ihr Auswanderer, so zwingt dazu auch euch —
              ein   Glaube !… 
           
          378. 
          „Und werden wieder hell“ . — Wir
              Freigebigen und Reichen des Geistes, die wir gleich offnen Brunnen
              an der Strasse stehn und es Niemandem wehren mögen, dass er aus
              uns schöpft: wir wissen uns leider nicht zu wehren, wo wir es
              möchten, wir können durch Nichts verhindern, dass man uns  
            trübt , finster macht, — dass die
              Zeit, in der wir leben, ihr „Zeitlichstes“, dass deren schmutzige
              Vögel ihren Unrath, die Knaben ihren Krimskrams und erschöpfte, an
              uns ausruhende Wandrer ihr kleines und grosses Elend in uns
              werfen. Aber wir werden es machen, wie wir es immer gemacht haben:
              wir nehmen, was man auch in uns wirft, hinab in unsre Tiefe — denn
              wir sind tief, wir vergessen nicht —   und
              werden wieder hell … 
           
          379. 
          Zwischenrede des Narren . — Das ist
              kein Misanthrop, der dies Buch geschrieben hat: der Menschenhass
              bezahlt sich heute zu theuer. Um zu hassen, wie man ehemals  
            den  Menschen gehasst hat,
              timonisch, im Ganzen, ohne Abzug, aus vollem Herzen, aus der
              ganzen   Liebe  des Hasses
              — dazu müsste man auf’s Verachten Verzicht leisten: — und wie viel
              feine Freude, wie viel Geduld, wie viel Gütigkeit selbst verdanken
              wir gerade unsrem Verachten! Zudem sind wir damit die
              „Auserwählten Gottes“: das feine Verachten ist unser Geschmack und
              Vorrecht, unsre Kunst, unsre Tugend vielleicht, wir Modernsten
              unter den Modernen!… Der Hass dagegen stellt gleich, stellt
              gegenüber, im Hass ist Ehre, endlich: im Hass ist   Furcht , ein grosser guter Theil Furcht.
              Wir Furchtlosen aber, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters,
              wir kennen unsern Vortheil gut genug, um gerade als die
              Geistigeren in Hinsicht auf diese Zeit ohne Furcht zu leben. Man
              wird uns schwerlich köpfen, einsperren, verbannen; man wird nicht
              einmal unsre Bücher verbieten und verbrennen. Das Zeitalter liebt
              den Geist, es liebt uns und hat uns nöthig, selbst wenn wir es ihm
              zu verstehn geben müssten, dass wir in der Verachtung Künstler
              sind; dass uns jeder Umgang mit Menschen einen leichten Schauder
              macht; dass wir mit aller unsrer Milde, Geduld,
              Menschenfreundlichkeit, Höflichkeit unsre Nase nicht überreden
              können, von ihrem Vorurtheile abzustehn, welches sie gegen die
              Nähe eines Menschen hat; dass wir die Natur lieben, je weniger
              menschlich es in ihr zugeht, und die Kunst,   wenn 
              sie die Flucht des Künstlers vor dem Menschen oder der Spott des
              Künstlers über den Menschen oder der Spott des Künstlers über sich
              selber ist… 
           
          380. 
          „Der Wanderer“ redet . — Um unsrer
              europäischen Moralität einmal aus der Ferne ansichtig zu werden,
              um sie an anderen, früheren oder kommenden, Moralitäten zu messen,
              dazu muss man es machen, wie es ein Wanderer macht, der wissen
              will, wie hoch die Thürme einer Stadt sind: dazu   verlässt 
              er die Stadt. „Gedanken über moralische Vorurtheile“, falls sie
              nicht Vorurtheile über Vorurtheile sein sollen, setzen eine
              Stellung   ausserhalb  der
              Moral voraus, irgend ein Jenseits von Gut und Böse zu dem man
              steigen, klettern, fliegen muss, — und, im gegebenen Falle,
              jedenfalls ein Jenseits von   unsrem 
              Gut und Böse, eine Freiheit von allem „Europa“, letzteres als eine
              Summe von kommandirenden Werthurtheilen verstanden, welche uns in
              Fleisch und Blut übergegangen sind. Dass man gerade dorthinaus,
              dorthinauf   will , ist
              vielleicht eine kleine Tollheit, ein absonderliches unvernünftiges
              „du musst“ — denn auch wir Erkennenden haben unsre Idiosynkrasien
              des „unfreien Willens“ —: die Frage ist, ob man wirklich
              dorthinauf   kann . Dies
              mag an vielfachen Bedingungen hängen, in der Hauptsache ist es die
              Frage darnach, wie leicht oder wie schwer wir sind, das Problem
              unsrer „spezifischen Schwere“. Man muss   sehr
              leicht  sein, um seinen Willen zur Erkenntniss bis in
              eine solche Ferne und gleichsam über seine Zeit hinaus zu treiben,
              um sich zum Ueberblick über Jahrtausende Augen zu schaffen und
              noch dazu reinen Himmel in diesen Augen! Man muss sich von Vielem
              losgebunden haben, was gerade uns Europäer von Heute drückt,
              hemmt, niederhält, schwer macht. Der Mensch eines solchen
              Jenseits, der die obersten Werthmaasse seiner Zeit selbst in Sicht
              bekommen will, hat dazu vorerst nöthig, diese Zeit in sich selbst
              zu „überwinden“ — es ist die Probe seiner Kraft — und folglich
              nicht nur seine Zeit, sondern auch seinen bisherigen Widerwillen
              und Widerspruch   gegen 
              diese Zeit, sein Leiden an dieser Zeit, seine Zeit-Ungemässheit,
              seine   Romantik … 
           
          381. 
          Zur Frage der Verständlichkeit . —
              Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern
              ebenso gewiss auch   nicht 
              verstanden werden. Es ist noch ganz und gar kein Einwand gegen ein
              Buch, wenn irgend Jemand es unverständlich findet: vielleicht
              gehörte eben dies zur Absicht seines Schreibers, — er   wollte  nicht von „irgend Jemand“
              verstanden werden. Jeder vornehmere Geist und Geschmack wählt
              sich, wenn er sich mittheilen will, auch seine Zuhörer; indem er
              sie wählt, zieht er zugleich gegen „die Anderen“ seine Schranken.
              Alle feineren Gesetze eines Stils haben da ihren Ursprung: sie
              halten zugleich ferne, sie schaffen Distanz, sie verbieten „den
              Eingang“, das Verständniss, wie gesagt, — während sie Denen die
              Ohren aufmachen, die uns mit den Ohren verwandt sind. Und dass ich
              es unter uns sage und in meinem Falle, — ich will mich weder durch
              meine Unwissenheit, noch durch die Munterkeit meines Temperaments
              verhindern lassen,   euch 
              verständlich zu sein, meine Freunde: durch die Munterkeit nicht,
              wie sehr sie auch mich zwingt, einer Sache geschwind beizukommen,
              um ihr überhaupt beizukommen. Denn ich halte es mit tiefen
              Problemen, wie mit einem kalten Bade — schnell hinein, schnell
              hinaus. Dass man damit nicht in die Tiefe, nicht tief genug  
            hinunter  komme, ist der Aberglaube
              der Wasserscheuen, der Feinde des kalten Wassers; sie reden ohne
              Erfahrung. Oh! die grosse Kälte macht geschwind! — Und nebenbei
              gefragt: bleibt wirklich eine Sache dadurch allein schon
              unverstanden und unerkannt, dass sie nur im Fluge berührt,
              angeblickt, angeblitzt wird? Muss man durchaus erst auf ihr fest
              sitzen? auf ihr wie auf einem Ei gebrütet haben? Diu noctuque
              incubando, wie Newton von sich selbst sagte? Zum Mindesten giebt
              es Wahrheiten von einer besonderen Scheu und Kitzlichkeit, deren
              man nicht anders habhaft wird, als plötzlich, — die man   überraschen  oder lassen muss… Endlich
              hat meine Kürze noch einen andern Werth: innerhalb solcher Fragen,
              wie sie mich beschäftigen, muss ich Vieles kurz sagen, damit es
              noch kürzer gehört wird. Man hat nämlich als Immoralist zu
              verhüten, dass man die Unschuld verdirbt, ich meine die Esel und
              die alten Jungfern beiderlei Geschlechts, die Nichts vom Leben
              haben als ihre Unschuld; mehr noch, meine Schriften sollen sie
              begeistern, erheben, zur Tugend ermuthigen. Ich wüsste Nichts auf
              Erden, was lustiger wäre als begeisterte alte Esel zu sehn und
              Jungfern, welche durch die süssen Gefühle der Tugend erregt
              werden: und „das habe ich gesehn“ — also sprach Zarathustra. So
              viel in Absicht der Kürze; schlimmer steht es mit meiner
              Unwissenheit, deren ich selbst vor mir selber kein Hehl habe. Es
              giebt Stunden, wo ich mich ihrer schäme; freilich ebenfalls
              Stunden, wo ich mich dieser Scham schäme. Vielleicht sind wir
              Philosophen allesammt heute zum Wissen schlimm gestellt: die
              Wissenschaft wächst, die Gelehrtesten von uns sind nahe daran zu
              entdecken, dass sie zu wenig wissen. Aber schlimmer wäre es immer
              noch, wenn es anders stünde, — wenn wir   zu
              viel  wüssten; unsre Aufgabe ist und bleibt zuerst,
              uns nicht selber zu verwechseln. Wir   sind 
              etwas Anderes als Gelehrte: obwohl es nicht zu umgehn ist, dass
              wir auch, unter Anderem, gelehrt sind. Wir haben andre
              Bedürfnisse, ein andres Wachsthum, eine andre Verdauung: wir
              brauchen mehr, wir brauchen auch weniger. Wie viel ein Geist zu
              seiner Ernährung nöthig hat, dafür giebt es keine Formel; ist aber
              sein Geschmack auf Unabhängigkeit gerichtet, auf schnelles Kommen
              und Gehn, auf Wanderung, auf Abenteuer vielleicht, denen nur die
              Geschwindesten gewachsen sind, so lebt er lieber frei mit schmaler
              Kost, als unfrei und gestopft. Nicht Fett, sondern die grösste
              Geschmeidigkeit und Kraft ist das, was ein guter Tänzer von seiner
              Nahrung will, — und ich wüsste nicht, was der Geist eines
              Philosophen mehr zu sein wünschte, als ein guter Tänzer. Der Tanz
              nämlich ist sein Ideal, auch seine Kunst, zuletzt auch seine
              einzige Frömmigkeit, sein „Gottesdienst“… 
           
          382. 
          Die grosse Gesundheit . — Wir
              Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen, wir Frühgeburten einer
              noch unbewiesenen Zukunft — wir bedürfen zu einem neuen Zwecke
              auch eines neuen Mittels, nämlich einer neuen Gesundheit, einer
              stärkeren gewitzteren zäheren verwegneren lustigeren, als alle
              Gesundheiten bisher waren. Wessen Seele darnach dürstet, den
              ganzen Umfang der bisherigen Werthe und Wünschbarkeiten erlebt und
              alle Küsten dieses idealischen „Mittelmeers“ umschifft zu haben,
              wer aus den Abenteuern der eigensten Erfahrung wissen will, wie es
              einem Eroberer und Entdecker des Ideals zu Muthe ist, insgleichen
              einem Künstler, einem Heiligen, einem Gesetzgeber, einem Weisen,
              einem Gelehrten, einem Frommen, einem Wahrsager, einem
              Göttlich-Abseitigen alten Stils: der hat dazu zuallererst Eins
              nöthig,   die grosse Gesundheit 
              — eine solche, welche man nicht nur hat, sondern auch beständig
              noch erwirbt und erwerben muss, weil man sie immer wieder
              preisgiebt, preisgeben muss!… Und nun, nachdem wir lange
              dergestalt unterwegs waren, wir Argonauten des Ideals, muthiger
              vielleicht, als klug ist, und oft genug schiffbrüchig und zu
              Schaden gekommen, aber, wie gesagt, gesünder als man es uns
              erlauben möchte, gefährlich-gesund, immer wieder gesund, — will es
              uns scheinen, als ob wir, zum Lohn dafür, ein noch unentdecktes
              Land vor uns haben, dessen Grenzen noch Niemand abgesehn hat, ein
              Jenseits aller bisherigen Länder und Winkel des Ideals, eine Welt
              so überreich an Schönem, Fremdem, Fragwürdigem, Furchtbarem und
              Göttlichem, dass unsre Neugierde ebensowohl wie unser Besitzdurst
              ausser sich gerathen sind — ach, dass wir nunmehr durch Nichts
              mehr zu ersättigen sind! Wie könnten wir uns, nach solchen
              Ausblicken und mit einem solchen Heisshunger in Gewissen und
              Wissen, noch   am gegenwärtigen
              Menschen  genügen lassen? Schlimm genug: aber es ist
              unvermeidlich, dass wir seinen würdigsten Zielen und Hoffnungen
              nur mit einem übel aufrecht erhaltenen Ernste zusehn und
              vielleicht nicht einmal mehr zusehn. Ein andres Ideal läuft vor
              uns her, ein wunderliches, versucherisches, gefahrenreiches Ideal,
              zu dem wir Niemanden überreden möchten, weil wir Niemandem so
              leicht das   Recht darauf 
              zugestehn: das Ideal eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt
              und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit Allem spielt, was
              bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess; für den das
              Höchste, woran das Volk billigerweise sein Werthmaass hat, bereits
              so viel wie Gefahr, Verfall, Erniedrigung oder, mindestens, wie
              Erholung, Blindheit, zeitweiliges Selbstvergessen bedeuten würde;
              das Ideal eines menschlich-übermenschlichen Wohlseins und
              Wohlwollens, das oft genug   unmenschlich 
              erscheinen wird, zum Beispiel, wenn es sich neben den ganzen
              bisherigen Erden-Ernst, neben alle Art Feierlichkeit in Gebärde,
              Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe wie deren leibhafteste
              unfreiwillige Parodie hinstellt — und mit dem, trotzalledem,
              vielleicht   der grosse Ernst 
              erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das
              Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt, die Tragödie  
            beginnt … 
           
          383. 
          Epilog . — Aber indem ich zum
              Schluss dieses düstere Fragezeichen langsam, langsam hinmale und
              eben noch Willens bin, meinen Lesern die Tugenden des rechten
              Lesens — oh was für vergessene und unbekannte Tugenden! — in’s
              Gedächtniss zu rufen, begegnet mir’s, dass um mich das
              boshafteste, munterste, koboldigste Lachen laut wird: die Geister
              meines Buches selber fallen über mich her, ziehn mich an den Ohren
              und rufen mich zur Ordnung. „Wir halten es nicht mehr aus — rufen
              sie mir zu —; fort, fort mit dieser rabenschwarzen Musik. Ist es
              nicht rings heller Vormittag um uns? Und grüner weicher Grund und
              Rasen, das Königreich des Tanzes? Gab es je eine bessere Stunde,
              um fröhlich zu sein? Wer singt uns ein Lied, ein Vormittagslied,
              so sonnig, so leicht, so flügge, dass es die Grillen   nicht  verscheucht, — dass es die
              Grillen vielmehr einlädt, mit zu singen, mit zu tanzen? Und lieber
              noch einen einfältigen bäurischen Dudelsack als solche
              geheimnissvolle Laute, solche Unkenrufe, Grabesstimmen und
              Murmelthierpfiffe, mit denen Sie uns in Ihrer Wildniss bisher
              regalirt haben, mein Herr Einsiedler und Zukunftsmusikant! Nein!
              Nicht solche Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und
              freudenvollere!“ — Gefällt es euch   so ,
              meine ungeduldigen Freunde? Wohlan! Wer wäre euch nicht gern zu
              Willen? Mein Dudelsack wartet schon, meine Kehle auch — sie mag
              ein wenig rauh klingen, nehmt fürlieb! dafür sind wir im Gebirge.
              Aber was ihr zu hören bekommt, ist wenigstens neu; und wenn ihr’s
              nicht versteht, wenn ihr den   Sänger 
              missversteht, was liegt daran! Das ist nun einmal „des Sängers
              Fluch“. Um so deutlicher könnt ihr seine Musik und Weise hören, um
              so besser auch nach seiner Pfeife — tanzen.   Wollt 
              ihr das?… 
           
           Lieder des Prinzen Vogelfrei. 
           [...]
          
          Voorwoord bij de tweede druk 
          1.
          Diesem Buche thut vielleicht nicht nur Eine Vorrede noth; und
              zuletzt bliebe immer noch der Zweifel bestehn, ob Jemand, ohne
              etwas Aehnliches erlebt zu haben, dem   Erlebnisse 
              dieses Buchs durch Vorreden näher gebracht werden kann. Es scheint
              in der Sprache des Thauwinds geschrieben: es ist Uebermuth,
              Unruhe, Widerspruch, Aprilwetter darin, so dass man beständig
              ebenso an die Nähe des Winters als an den   Sieg 
              über den Winter gemahnt wird, der kommt, kommen muss, vielleicht
              schon gekommen ist… Die Dankbarkeit strömt fortwährend aus, als ob
              eben das Unerwartetste geschehn sei, die Dankbarkeit eines
              Genesenden, — denn die   Genesung 
              war dieses Unerwartetste. „Fröhliche Wissenschaft“: das bedeutet
              die Saturnalien eines Geistes, der einem furchtbaren langen Drucke
              geduldig widerstanden hat — geduldig, streng, kalt, ohne sich zu
              unterwerfen, aber ohne Hoffnung —, und der jetzt mit Einem Male
              von der Hoffnung angefallen wird, von der Hoffnung auf Gesundheit,
              von der   Trunkenheit  der
              Genesung. Was Wunders, dass dabei viel Unvernünftiges und
              Närrisches an’s Licht kommt, viel muthwillige Zärtlichkeit, selbst
              auf Probleme verschwendet, die ein stachlichtes Fell haben und
              nicht darnach angethan sind, geliebkost und gelockt zu werden.
              Dies ganze Buch ist eben Nichts als eine Lustbarkeit nach langer
              Entbehrung und Ohnmacht, das Frohlocken der wiederkehrenden Kraft,
              des neu erwachten Glaubens an ein Morgen und Uebermorgen, des
              plötzlichen Gefühls und Vorgefühls von Zukunft, von nahen
              Abenteuern, von wieder offenen Meeren, von wieder erlaubten,
              wieder geglaubten Zielen. Und was lag nunmehr Alles hinter mir!
              Dieses Stück Wüste, Erschöpfung, Unglaube, Vereisung mitten in der
              Jugend, dieses eingeschaltete Greisenthum an unrechter Stelle,
              diese Tyrannei des Schmerzes überboten noch durch die Tyrannei des
              Stolzes, der die   Folgerungen 
              des Schmerzes ablehnte — und Folgerungen sind Tröstungen —, diese
              radikale Vereinsamung als Nothwehr gegen eine krankhaft
              hellseherisch gewordene Menschenverachtung, diese grundsätzliche
              Einschränkung auf das Bittere, Herbe, Wehethuende der Erkenntniss,
              wie sie der   Ekel 
              verordnete, der aus einer unvorsichtigen geistigen Diät und
              Verwöhnung — man heisst sie Romantik — allmählich gewachsen war —,
              oh wer mir das Alles nachfühlen könnte! Wer es aber könnte, würde
              mir sicher noch mehr zu Gute halten als etwas Thorheit,
              Ausgelassenheit, „fröhliche Wissenschaft“, — zum Beispiel die
              Handvoll Lieder, welche dem Buche dies Mal beigegeben sind —
              Lieder, in denen sich ein Dichter auf eine schwer verzeihliche
              Weise über alle Dichter lustig macht. — Ach, es sind nicht nur die
              Dichter und ihre schönen „lyrischen Gefühle“, an denen dieser
              Wieder-Erstandene seine Bosheit auslassen muss: wer weiss, was für
              ein Opfer er sich sucht, was für ein Unthier von parodischem Stoff
              ihn in Kürze reizen wird? „Incipit   tragoedia “
              — heisst es am Schlusse dieses bedenklich-unbedenklichen Buchs:
              man sei auf seiner Hut! Irgend etwas ausbündig Schlimmes und
              Boshaftes kündigt sich an: incipit   parodia ,
              es ist kein Zweifel… 
          1 Dit boek is wellicht gebaat bij meer dan één
            voorwoord ; en dan nog blijft de twijfel bestaan of iemand, die niet
            iets soortgelijks heeft beleefd, door een voorwoord werkelijk
            dichter bij de ervaring van dit boek kan worden gebracht. Het lijkt
            geschreven in de taal van de dooiwind: er zit overmoed in, onrust,
            tegenspraak, aprilweer — zodat men voortdurend herinnerd wordt aan
            de nabijheid van de winter, maar ook aan de overwinning op de
            winter, die komt, komen móét, misschien al gekomen is… Er stroomt
            een voortdurende dankbaarheid doorheen, alsof juist het
            onverwachtste is gebeurd — de dankbaarheid van een herstellende,
            want dat herstel was het onverwachtste. “Vrolijke wetenschap” — dat
            betekent: de saturnaliën van een geest die lange tijd onder een
            verschrikkelijke druk heeft gestaan, die geduldig heeft volgehouden
            — geduldig, streng, koel, zonder zich te onderwerpen, maar ook
            zonder hoop —, en die nu plotseling wordt overvallen door hoop: de
            hoop op gezondheid, de dronkenschap van het herstel. Geen wonder dat
            daarbij veel onredelijks en dwaasheden aan het licht komen, veel
            speelse tederheid, zelfs verspild aan problemen met een stekelig
            vel, die er niet bepaald om vragen om gestreeld of verleid te
            worden. Dit hele boek is niets anders dan een feestviering na lange
            ontbering en machteloosheid — het juichen van teruggekeerde kracht,
            van een herboren geloof in morgen en overmorgen, van een plotseling
            gevoel en voorgevoel van toekomst, van nabije avonturen, van opnieuw
            geopende zeeën, van opnieuw toegestane, opnieuw geloofde doelen. En
            wat lag er nu allemaal achter mij! Dat stuk woestijn, die
            uitputting, dat ongeloof, die verijzing midden in de jeugd; die
            ingelaste ouderdom op de verkeerde plaats; die tirannie van de pijn,
            nog overtroffen door de tirannie van de trots die de conclusies van
            de pijn afwees — en conclusies zijn troost; die radicale eenzaamheid
            als zelfverdediging tegen een ziekelijk helderziende
            mensenverachting; die principiële beperking tot het bittere, harde,
            pijnlijke van het kennen, zoals die werd opgelegd door de walging
            die gegroeid was uit een onvoorzichtige geestelijke voeding en
            verwenning — men noemt dat romantiek. O, wie zou dit alles kunnen
            navoelen! Wie het echter zou kunnen, zou mij vast meer vergeven dan
            wat dwaasheid en uitgelatenheid, meer dan wat “vrolijke wetenschap”
            — bijvoorbeeld dat handjevol liederen die ditmaal aan het boek zijn
            toegevoegd: liederen waarin een dichter zich op onvergeeflijke wijze
            vrolijk maakt over alle dichters. Ach, het zijn niet alleen de
            dichters en hun fraaie “lyrische gevoelens” op wie deze herrezen
            geest zijn boosaardigheid moet botvieren: wie weet welk offer hij
            nog zoekt, welk monsterlijk parodisch onderwerp hem binnenkort zal
            prikkelen? “Incipit tragoedia”  — zo luidt het slot van
            dit bedenkelijk-onbedenkelijke boek: wees op uw hoede! Er kondigt
            zich iets onverbiddelijk slechts en boosaardigs aan — incipit
              parodia  — daar bestaat geen twijfel over… 
           
          2.
          — Aber lassen wir Herrn Nietzsche: was geht es uns an, dass
              Herr Nietzsche wieder gesund wurde?… Ein Psychologe kennt wenig so
              anziehende Fragen, wie die nach dem Verhältniss von Gesundheit und
              Philosophie, und für den Fall, dass er selber krank wird, bringt
              er seine ganze wissenschaftliche Neugierde mit in seine Krankheit.
              Man hat nämlich, vorausgesetzt, dass man eine Person ist,
              nothwendig auch die Philosophie seiner Person: doch giebt es da
              einen erheblichen Unterschied. Bei dem Einen sind es seine Mängel,
              welche philosophiren, bei dem Andern seine Reichthümer und Kräfte.
              Ersterer hat seine Philosophie   nöthig ,
              sei es als Halt, Beruhigung, Arznei, Erlösung, Erhebung,
              Selbstentfremdung; bei Letzterem ist sie nur ein schöner Luxus, im
              besten Falle die Wollust einer triumphirenden Dankbarkeit, welche
              sich zuletzt noch in kosmischen Majuskeln an den Himmel der
              Begriffe schreiben muss. Im andren, gewöhnlicheren Falle aber,
              wenn die Nothstände Philosophie treiben, wie bei allen kranken
              Denkern — und vielleicht überwiegen die kranken Denker in der
              Geschichte der Philosophie —: was wird aus dem Gedanken selbst
              werden, der unter den   Druck 
              der Krankheit gebracht wird? Dies ist die Frage, die den
              Psychologen angeht: und hier ist das Experiment möglich. Nicht
              anders als es ein Reisender macht, der sich vorsetzt, zu einer
              bestimmten Stunde aufzuwachen und sich dann ruhig dem Schlafe
              überlässt: so ergeben wir Philosophen, gesetzt, dass wir krank
              werden, uns zeitweilig mit Leib und Seele der Krankheit — wir
              machen gleichsam vor uns die Augen zu. Und wie Jener weiss, dass
              irgend Etwas   nicht 
              schläft, irgend Etwas die Stunden abzählt und ihn aufwecken wird,
              so wissen auch wir, dass der entscheidende Augenblick uns wach
              finden wird, — dass dann Etwas hervorspringt und den Geist  
            auf der That  ertappt, ich meine auf
              der Schwäche oder Umkehr oder Ergebung oder Verhärtung oder
              Verdüsterung und wie alle die krankhaften Zustände des Geistes
              heissen, welche in gesunden Tagen den   Stolz 
              des Geistes wider sich haben (denn es bleibt bei dem alten Reime
              „der stolze Geist, der Pfau, das Pferd sind die drei stölzesten
              Thier’ auf der Erd“ —). Man lernt nach einer derartigen
              Selbst-Befragung, Selbst-Versuchung, mit einem feineren Auge nach
              Allem, was überhaupt bisher philosophirt worden ist, hinsehn; man
              erräth besser als vorher die unwillkürlichen Abwege, Seitengassen,
              Ruhestellen,   Sonnen stellen
              des Gedankens, auf die leidende Denker gerade als Leidende geführt
              und verführt werden, man weiss nunmehr, wohin unbewusst der kranke
              Leib  und sein Bedürfniss
              den Geist drängt, stösst, lockt — nach Sonne, Stille, Milde,
              Geduld, Arznei, Labsal in irgend einem Sinne. Jede Philosophie,
              welche den Frieden höher stellt als den Krieg, jede Ethik mit
              einer negativen Fassung des Begriffs Glück, jede Metaphysik und
              Physik, welche ein Finale kennt, einen Endzustand irgend welcher
              Art, jedes vorwiegend aesthetische oder religiöse Verlangen nach
              einem Abseits, Jenseits, Ausserhalb, Oberhalb erlaubt zu fragen,
              ob nicht die Krankheit das gewesen ist, was den Philosophen
              inspirirt hat. Die unbewusste Verkleidung physiologischer
              Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven, Ideellen,
              Rein-Geistigen geht bis zum Erschrecken weit, — und oft genug habe
              ich mich gefragt, ob nicht, im Grossen gerechnet, Philosophie
              bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein   Missverständniss des Leibes  gewesen
              ist. Hinter den höchsten Werthurtheilen, von denen bisher die
              Geschichte des Gedankens geleitet wurde, liegen Missverständnisse
              der leiblichen Beschaffenheit verborgen, sei es von Einzelnen, sei
              es von Ständen oder ganzen Rassen. Man darf alle jene kühnen
              Tollheiten der Metaphysik, sonderlich deren Antworten auf die
              Frage nach dem   Werth 
              des Daseins, zunächst immer als Symptome bestimmter Leiber ansehn;
              und wenn derartigen Welt-Bejahungen oder Welt-Verneinungen in
              Bausch und Bogen, wissenschaftlich gemessen, nicht ein Korn von
              Bedeutung innewohnt, so geben sie doch dem Historiker und
              Psychologen um so werthvollere Winke, als Symptome, wie gesagt,
              des Leibes, seines Gerathens und Missrathens, seiner Fülle,
              Mächtigkeit, Selbstherrlichkeit in der Geschichte, oder aber
              seiner Hemmungen, Ermüdungen, Verarmungen, seines Vorgefühls vom
              Ende, seines Willens zum Ende. Ich erwarte immer noch, dass ein
              philosophischer   Arzt  im
              ausnahmsweisen Sinne des Wortes — ein Solcher, der dem Problem der
              Gesammt-Gesundheit von Volk, Zeit, Rasse, Menschheit nachzugehn
              hat — einmal den Muth haben wird, meinen Verdacht auf die Spitze
              zu bringen und den Satz zu wagen: bei allem Philosophiren handelte
              es sich bisher gar nicht um „Wahrheit“, sondern um etwas Anderes,
              sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachsthum, Macht, Leben… 
          2 –Maar laten we meneer Nietzsche er even
            buiten houden : wat gaat het ons aan dat hij weer gezond is
            geworden? Voor een psycholoog is er nauwelijks een vraag zo
            intrigerend als die naar de verhouding tussen gezondheid en
            filosofie. En als hij zelf ziek wordt, neemt hij zijn hele
            wetenschappelijke nieuwsgierigheid met zich mee in die ziekte. Want
            wie een persoon is, heeft noodzakelijk ook de filosofie van die
            persoon. Alleen ligt daar een belangrijk verschil: bij de één zijn
            het zijn tekorten die filosoferen, bij de ander zijn het zijn
            rijkdommen en krachten. De eerste hééft zijn filosofie nodig — als
            steun, als rustmiddel, als medicijn, verlossing, verheffing, of
            zelfs als middel tot zelfvervreemding. Voor de tweede daarentegen is
            zij slechts een prachtige luxe — in het beste geval het genot van
            een triomferende dankbaarheid, die zich ten slotte nog in kosmische
            hoofdletters aan de hemel der begrippen moet schrijven. Maar in het
            andere, gewonere geval — wanneer het de noodtoestand is die aanzet
            tot filosoferen, zoals bij alle zieke denkers (en misschien hebben
            de zieke denkers wel de overhand in de geschiedenis van de
            filosofie) — wat gebeurt er dan met het denken zelf, dat onder de
            druk van ziekte komt te staan? Dat is de vraag die de psycholoog
            aangaat. En hier is een experiment mogelijk. Zoals een reiziger die
            zich voorneemt op een bepaald uur wakker te worden en zich dan
            rustig overgeeft aan de slaap, zo geven ook wij filosofen ons,
            wanneer we ziek worden, tijdelijk met lichaam en ziel over aan de
            ziekte — we doen als het ware de ogen voor onszelf dicht. En zoals
            die reiziger weet dat er iets in hem niet slaapt, iets dat de uren
            telt en hem zal wekken, zo weten ook wij dat het beslissende
            ogenblik ons wakker zal vinden — dat er dan iets tevoorschijn zal
            springen en de geest op heterdaad zal betrappen: op zwakte, of
            ommekeer, of overgave, of verharding, of vertroebeling, of hoe men
            al die ziekelijke toestanden van de geest ook noemen wil, die in
            gezonde dagen de trots van de geest tegen zich hebben. (Want het
            blijft bij het oude rijmpje: “de trotse geest, de pauw, het paard —
            de drie trotsen van de aard.”) Na zo’n zelfondervraging, zo’n
            zelfbeproeving, leert men met een fijner oog kijken naar al het
            denken dat ooit gefilosofeerd is. Men raadt beter dan voorheen de
            onwillekeurige dwaalwegen, zijpaden, rustplaatsen, zonnige plekjes
            van het denken, waarheen lijdende denkers, juist als lijdenden,
            werden geleid en verleid. Men weet voortaan waarheen het zieke
            lichaam en zijn behoeften de geest onbewust dringen, stoten, lokken
            — naar zon, stilte, zachtheid, geduld, genezing, balsem, in welke
            vorm dan ook. Elke filosofie die de vrede hoger stelt dan de strijd,
            elke ethiek die geluk negatief opvat, elke metafysica of fysica die
            een finale, een eindtoestand van welke aard dan ook kent, elk
            overwegend esthetisch of religieus verlangen naar een “afzijdig”,
            “aan gene zijde”, “buiten”, of “boven” — bij al die systemen mag men
            zich afvragen of het niet de ziekte is geweest die de filosoof
            geïnspireerd heeft. De onbewuste vermomming van fysiologische
            behoeften in de gewaden van het objectieve, het ideale, het
            zuiver-geestelijke gaat tot het huiveringwekkende toe. En vaak
            genoeg heb ik mij afgevraagd of, in grote lijnen bezien, de
            filosofie tot nu toe überhaupt niet slechts een uitleg van het
            lichaam is geweest — en een misverstand van het lichaam. Achter de
            hoogste waardenoordelen die de geschiedenis van het denken tot nu
            toe hebben geleid, schuilen misverstanden over de lichamelijke
            gesteldheid — hetzij van individuen, hetzij van standen of hele
            rassen. Men mag al die stoutmoedige waanzinnigheden van de
            metafysica — vooral haar antwoorden op de vraag naar de waarde van
            het bestaan — allereerst beschouwen als symptomen van bepaalde
            lichamen. En ook al heeft zulke alomvattende wereldbevestiging of
            wereldverwerping, wetenschappelijk bezien, niet het minste gewicht,
            toch geven zij de historicus en psycholoog des te waardevollere
            aanwijzingen: als symptomen — van het lichaam, van zijn welslagen of
            mislukken, van zijn overvloed, kracht en heerschappij in de
            geschiedenis, of juist van zijn remmingen, vermoeidheden, verarming,
            zijn voorgevoel van het einde, zijn wil tot het einde. Ik wacht nog
            altijd op de komst van een filosofische arts in uitzonderlijke zin —
            iemand die het probleem van de algehele gezondheid van volk, tijd,
            ras, mensheid durft aan te pakken —, iemand die de moed zal hebben
            mijn vermoeden op de spits te drijven en te stellen: bij al het
            filosoferen ging het tot nu toe helemaal niet om de “waarheid”, maar
            om iets anders — laten we zeggen: om gezondheid, toekomst, groei,
            macht, leven. .. 
           
          3. — Man erräth, dass ich nicht mit Undankbarkeit von jener Zeit
            schweren Siechthums Abschied nehmen möchte, deren Gewinn auch heute
            noch nicht für mich ausgeschöpft ist: so wie ich mir gut genug
            bewusst bin, was ich überhaupt in meiner wechselreichen Gesundheit
            vor allen Vierschrötigen des Geistes voraus habe. Ein Philosoph, der
            den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder
            macht, ist auch durch ebensoviele Philosophien hindurchgegangen: er
            kann  eben nicht anders als seinen
              Zustand jedes Mal in die geistigste Form und Ferne umzusetzen, —
              diese Kunst der Transfiguration   ist 
              eben Philosophie. Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen
              Seele und Leib zu trennen, wie das Volk trennt, es steht uns noch
              weniger frei, zwischen Seele und Geist zu trennen. Wir sind keine
              denkenden Frösche, keine Objektivir- und Registrir-Apparate mit
              kalt gestellten Eingeweiden, — wir müssen beständig unsre Gedanken
              aus unsrem Schmerz gebären und mütterlich ihnen Alles mitgeben,
              was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen,
              Schicksal, Verhängniss in uns haben. Leben — das heisst für uns
              Alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln,
              auch Alles, was uns trifft, wir   können 
              gar nicht anders. Und was die Krankheit angeht: würden wir nicht
              fast zu fragen versucht sein, ob sie uns überhaupt entbehrlich
              ist? Erst der grosse Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes,
              als der Lehrmeister des   grossen
              Verdachtes , der aus jedem U ein X macht, ein ächtes
              rechtes X, das heisst den vorletzten Buchstaben vor dem letzten…
              Erst der grosse Schmerz, jener lange langsame Schmerz, der sich
              Zeit nimmt, in dem wir gleichsam wie mit grünem Holze verbrannt
              werden, zwingt uns Philosophen, in unsre letzte Tiefe zu steigen
              und alles Vertrauen, alles Gutmüthige, Verschleiernde, Milde,
              Mittlere, wohinein wir vielleicht vordem unsre Menschlichkeit
              gesetzt haben, von uns zu thun. Ich zweifle, ob ein solcher
              Schmerz „verbessert“ —; aber ich weiss, dass er uns   vertieft . Sei es nun, dass wir ihm
              unsern Stolz, unsern Hohn, unsre Willenskraft entgegenstellen
              lernen und es dem Indianer gleichthun, der, wie schlimm auch
              gepeinigt, sich an seinem Peiniger durch die Bosheit seiner Zunge
              schadlos hält; sei es, dass wir uns vor dem Schmerz in jenes
              orientalische Nichts zurückziehn — man heisst es Nirvana —, in das
              stumme, starre, taube Sich-Ergeben, Sich-Vergessen,
              Sich-Auslöschen: man kommt aus solchen langen gefährlichen
              Uebungen der Herrschaft über sich als ein andrer Mensch heraus,
              mit einigen Fragezeichen mehr, vor Allem mit dem   Willen ,
              fürderhin mehr, tiefer, strenger, härter, böser, stiller zu fragen
              als man bis dahin gefragt hatte. Das Vertrauen zum Leben ist
              dahin: das Leben selbst wurde zum   Problem .
              — Möge man ja nicht glauben, dass Einer damit nothwendig zum
              Düsterling geworden sei! Selbst die Liebe zum Leben ist noch
              möglich, — nur liebt man anders. Es ist die Liebe zu einem Weibe,
              das uns Zweifel macht… Der Reiz alles Problematischen, die Freude
              am X ist aber bei solchen geistigeren, vergeistigteren Menschen zu
              gross, als dass diese Freude nicht immer wieder wie eine helle
              Gluth über alle Noth des Problematischen, über alle Gefahr der
              Unsicherheit, selbst über die Eifersucht des Liebenden
              zusammenschlüge. Wir kennen ein neues Glück… 
          3 – Je raadt al, dat ik niet ondankbaar
            afscheid wil nemen van die tijd van zwaar ziek-zijn, waarvan de
            winst ook nu nog niet uitgeput is; net zo goed als ik me maar al te
            goed bewust ben wat ik, met mijn wisselende gezondheid, vóór heb op
            al die logge geesten. Een filosoof die door vele toestanden van
            gezondheid is heengegaan – en er telkens opnieuw doorheen gaat – is
            ook door evenzovele filosofieën gegaan. Hij kan eenvoudig niet
            anders dan telkens zijn toestand omzetten in een geestelijke
            gestalte, in een vorm en een verte - deze kunst van de
            transfiguratie is  de filosofie . Wij filosofen kunnen het
            ons niet veroorloven om, zoals het volk, ziel en lichaam te scheiden
            – en nog minder om ziel en geest te scheiden. Wij zijn geen denkende
            kikkers, geen objectiverende en registrerende apparaten met
            afgekoelde ingewanden; wij moeten onophoudelijk onze gedachten baren
            uit onze pijn, en hun moederlijk alles meegeven wat wij aan bloed,
            hart, vuur, lust, hartstocht, kwelling, geweten, lot en noodlot in
            ons dragen. Leven – dat betekent voor ons: al wat wij zijn
            onophoudelijk omzetten in licht en vlam, ook al wat ons overkomt –
            wij kunnen eenvoudig niet anders. En wat de ziekte betreft: zouden
            we niet bijna in de verleiding komen te vragen of zij ons überhaupt
            wel kan worden ontzegd? Pas de grote pijn is de laatste bevrijder
            van de geest – de leermeester van het grote wantrouwen, die van
            iedere U een X maakt, een echte, volwaardige X: dat wil zeggen, de
            voorlaatste letter vóór de laatste... Pas de grote pijn, die lange,
            trage pijn die de tijd neemt, waarin wij als het ware met nat hout
            worden verbrand, dwingt ons filosofen om af te dalen in onze laatste
            diepte, en alles van ons af te werpen wat aan vertrouwen,
            goedmoedigheid, versluiering, mildheid, middelmaat – kortom,
            menselijkheid – in ons huisde. Ik betwijfel of zo’n pijn ons
            “verbeterd” – maar ik weet dat hij ons verdiept. Of we nu leren onze
            trots, onze spot, onze wilskracht ertegen in te zetten en het doen
            als de Indiaan die, hoe hevig ook gepijnigd, zich op zijn beul
            wreekt met de kwaadaardigheid van zijn tong; of we ons terugtrekken
            voor de pijn in dat oosterse niets – men noemt het Nirwana – in een
            stom, star, doof zich-overgeven, zich-vergeten, zich-uitblussen: uit
            zulke lange en gevaarlijke oefeningen in zelfbeheersing komt men als
            een ander mens tevoorschijn, met enkele vraagtekens meer, en vooral
            met de wil voortaan meer, dieper, strenger, harder, kwaadaardiger,
            stiller te vragen dan men tot dan toe had gedaan. Het vertrouwen in
            het leven is weg: het leven zelf is tot een probleem geworden. Maar
            men moet vooral niet denken dat iemand daardoor noodzakelijk somber
            wordt! Zelfs liefde voor het leven blijft mogelijk – alleen bemint
            men anders. Het is de liefde voor een vrouw die ons doet twijfelen…
            De bekoring van al het problematische, de vreugde aan het X, is bij
            zulke meer geestelijke, vergeestelijkte mensen te groot om niet
            telkens weer als een heldere gloed op te laaien over alle nood van
            het problematische heen, over alle gevaren van onzekerheid, zelfs
            over de jaloezie van de liefhebbende heen. Wij kennen een nieuw
            soort geluk… 
           
          4. 
          Zuletzt, dass das Wesentlichste nicht ungesagt bleibe: man
              kommt aus solchen Abgründen, aus solchem schweren Siechthum, auch
              aus dem Siechthum des schweren Verdachts,   neugeboren 
              zurück, gehäutet, kitzlicher, boshafter, mit einem feineren
              Geschmacke für die Freude, mit einer zarteren Zunge für alle guten
              Dinge, mit lustigeren Sinnen, mit einer zweiten gefährlicheren
              Unschuld in der Freude, kindlicher zugleich und hundert Mal
              raffinirter als man jemals vorher gewesen war. Oh wie Einem
              nunmehr der Genuss zuwider ist, der grobe dumpfe braune Genuss,
              wie ihn sonst die Geniessenden, unsre „Gebildeten“, unsre Reichen
              und Regierenden verstehn! Wie boshaft wir nunmehr dem grossen
              Jahrmarkts-Bumbum zuhören, mit dem sich der „gebildete Mensch“ und
              Grossstädter heute durch Kunst, Buch und Musik zu „geistigen
              Genüssen“, unter Mithülfe geistiger Getränke, nothzüchtigen lässt!
              Wie uns jetzt der Theater-Schrei der Leidenschaft in den Ohren weh
              thut, wie unsrem Geschmacke der ganze romantische Aufruhr und
              Sinnen-Wirrwarr, den der gebildete Pöbel liebt, sammt seinen
              Aspirationen nach dem Erhabenen, Gehobenen, Verschrobenen fremd
              geworden ist! Nein, wenn wir Genesenden überhaupt eine Kunst noch
              brauchen, so ist es eine   andre 
              Kunst — eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich
              unbehelligte, göttlich künstliche Kunst, welche wie eine helle
              Flamme in einen unbewölkten Himmel hineinlodert! Vor Allem: eine
              Kunst für Künstler, nur für Künstler! Wir verstehn uns hinterdrein
              besser auf Das, was   dazu 
              zuerst noth thut, die Heiterkeit,   jede
              Heiterkeit , meine Freunde! auch als Künstler —: ich
              möchte es beweisen. Wir wissen Einiges jetzt zu gut, wir
              Wissenden: oh wie wir nunmehr lernen, gut zu vergessen, gut  
            nicht -zu-wissen, als Künstler! Und
              was unsere Zukunft betrifft: man wird uns schwerlich wieder auf
              den Pfaden jener ägyptischen Jünglinge finden, welche Nachts
              Tempel unsicher machen, Bildsäulen umarmen und durchaus Alles, was
              mit guten Gründen verdeckt gehalten wird, entschleiern, aufdecken,
              in helles Licht stellen wollen. Nein, dieser schlechte Geschmack,
              dieser Wille zur Wahrheit, zur „Wahrheit um jeden Preis“, dieser
              Jünglings-Wahnsinn in der Liebe zur Wahrheit — ist uns verleidet:
              dazu sind wir zu erfahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu
              tief… Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit
              bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht; wir haben genug gelebt,
              um dies zu glauben. Heute gilt es uns als eine Sache der
              Schicklichkeit, dass man nicht Alles nackt sehn, nicht bei Allem
              dabei sein, nicht Alles verstehn und „wissen“ wolle. „Ist es wahr,
              dass der liebe Gott überall zugegen ist?“ fragte ein kleines
              Mädchen seine Mutter: „aber ich finde das unanständig“ — ein Wink
              für Philosophen! Man sollte die   Scham 
              besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Räthsel und
              bunte Ungewissheiten versteckt hat. Vielleicht ist die Wahrheit
              ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn zu lassen?
              Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?… Oh diese
              Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu   leben :
              dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut
              stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an
              Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen
              waren oberflächlich —   aus  Tiefe ! Und kommen wir nicht eben darauf
              zurück, wir Wagehalse des Geistes, die wir die höchste und
              gefährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert und
              uns von da aus umgesehn haben, die wir von da aus   hinabgesehn  haben? Sind wir nicht eben
              darin — Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben
              darum — Künstler? 
          Ruta  bei Genua,  im Herbst
            1886.
          4 Tot slot, opdat het wezenlijkste niet
            onuitgesproken blijft: uit zulke afgronden komt men terug als
            herboren — ontdaan van zijn huid, gevoeliger, venijniger, met een
            verfijndere smaak voor vreugde, met een subtieler tong voor alles
            wat goed is, met speelsere zinnen, met een tweede, gevaarlijker
            onschuld in het genieten — kindelijker en tegelijk honderdmaal
            geraffineerder dan men ooit tevoren was. O, hoe ons nu die grove,
            doffe, bruine genieting tegenstaat — dat plompe genot dat de
            genieters zelf, onze “ontwikkelden”, onze rijken en heersenden, als
            verheven beschouwen! Hoe boosaardig luisteren wij nu naar het grote
            kermisgebonk waarmee de “beschaafde mens”, de stedeling van vandaag,
            zich onder hulp van geestverheffende drankjes door kunst, boeken en
            muziek laat opzwepen tot “geestelijk genot”! Hoe zeer doet ons nu de
            theatrale schreeuw van de hartstocht pijn in de oren; hoe vreemd is
            ons geworden de hele romantische opschudding en zinnelijke
            verwarring die het ontwikkelde gepeupel aanbidt — met zijn hang naar
            het verhevene, het gezwollene, het zonderlinge! Nee, als wij
            genezenden überhaupt nog een kunst nodig hebben, dan is het een
            andere kunst: een spottende, lichte, vluchtige, goddelijk
            onbezwaarde, goddelijk kunstmatige kunst, die als een heldere vlam
            omhoogschiet in een wolkenloze hemel! Bovenal: een kunst voor
            kunstenaars — alleen voor kunstenaars! Wij weten intussen beter wat
            daartoe allereerst nodig is: de vrolijkheid, alle vrolijkheid, mijn
            vrienden! Ook als kunstenaars — laat mij het bewijzen. Wij weten nu
            te veel, wij wetenden — o, hoe hebben wij leren vergeten, leren
            niet-weten, goed niet-weten, als kunstenaars! En wat onze toekomst
            betreft: men zal ons moeilijk nog terugvinden op de wegen van die
            Egyptische jongelingen die ’s nachts tempels binnenslopen, beelden
            omhelsden en koste wat kost alles wilden ontbloten, onthullen, in
            het volle licht stellen wat met goede reden bedekt wordt gehouden.
            Nee — die slechte smaak, die wil tot waarheid, die “waarheid om elke
            prijs”, die jeugdige waanzin van de waarheidshonger — die zijn we
            moe. We zijn daar te ervaren, te ernstig, te vrolijk, te geschroeid,
            te diep voor geworden. Wij geloven niet langer dat de waarheid nog
            waarheid blijft wanneer men haar de sluier aftrekt; we hebben te
            lang geleefd om dat nog te geloven. Vandaag geldt voor ons: het
            hoort tot de welvoeglijkheid dat men niet alles naakt wil zien, niet
            overal bij wil zijn, niet alles wil begrijpen of “weten”. “Is het
            waar dat de lieve God overal aanwezig is?” vroeg een klein meisje
            aan haar moeder — “maar dat vind ik onbehoorlijk!” Een wenk voor
            filosofen! Men zou beter de schaamte eren waarmee de natuur zich
            achter raadselen en bont gekleurde onzekerheden verbergt. Misschien
            is de waarheid een vrouw — en heeft zij haar redenen om haar redenen
            niet te tonen? Misschien heet zij, om het Grieks te zeggen, Baubo?…
            O, die Grieken! Zij verstonden de kunst te leven — dat vereist:
            moedig bij de oppervlakte, de plooi, de huid blijven staan; de
            schijn aanbidden, geloven in vormen, in klanken, in woorden, in de
            hele Olympus van de schijn! Deze Grieken waren oppervlakkig — uit diepte
              (diepzinnigheid)  ! En keren wij, waaghalzen van de geest,
            die de hoogste en gevaarlijkste spits van het hedendaagse denken
            hebben beklommen en vandaar om ons heen en (op hen) neergekeken
             hebben — keren wij niet juist dáárheen terug? Zijn wij niet
            precies daarin weer Grieken geworden — aanbidders van vorm, van
            toon, van woord — en juist daarom: kunstenaars?  
           Ruta bij Genua, herfst 1886